Rot
Vilma nie finden. Jonny war ein Weltklassehacker und mit Computern zu Kunststücken imstande, die sich ein normaler Mensch nicht einmal vorstellen konnte. Zu seinem Pech war er vor etwa zwei Jahren beim Einbruch in das Informationssystem des Pentagon erwischt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Seitdem suchten sowohl die Ermittlungsgruppe der KRP für Straftaten auf dem Gebiet der Informationstechnik als auch die Behörden anderer Länder bei jedem erstklassigen Dateneinbruch Jonnys Nick P@r@noid.
Kati Soisalo erreichte den Kasarmitori und überlegte, wie viel Schnee wohl diesen Winter fallen würde. Voriges Jahr hatte man den Kasarmitori zum Parkplatz machen müssen, weil durch die Schneemassen in ganz Helsinki die Straßen verstopft waren. Blieb nur zu hoffen, dass Jonny bald wieder besänftigt war, denn sie würden beide in Kürze die Hilfe des anderen brauchen. Sie besaßen einen gemeinsamen Feind – den stellvertretenden Chef der KRP Jukka Ukkola, ihren Exmann. Ukkola hatte einen gewaltigen Aufwand betrieben, um den Anschein zu erwecken, als hätten sie beide eine schwere Straftat begangen. Ihr selbst stand ein Prozess bevor, weil Ukkola zwei Zeugen bestochen hatte, falsch auszusagen und zu behaupten, sie habe bei der Aufstellung des Nachlasses einer Bekannten ein Perlenhalsband im Wert von überhunderttausend Euro unterschlagen. Und in Jonnys Wohnung hatte Ukkola Amphetamin versteckt. Zudem wurde gegen Jonny eine Anklage wegen schweren Dateneinbruchs vorbereitet, nachdem man ihn beim Cracken von Ukkolas Computern erwischt hatte. Ukkolas Suspendierung vom Dienst war nur ein schwacher Trost. Er stand unter dem Verdacht der Beteiligung am Drogenund Menschenhandel. Das war den Beweisen zu verdanken, die sie mit Jonny und Leo Kara im August ausgegraben hatte.
Beim Gedanken an Ukkola spürte sie den Hass wie eine Hitzewallung in ihren Schläfen. Der Kerl hatte seit Vilmas Verschwinden, also über drei Jahre lang, gewusst, wo das Mädchen war, ihr aber bis zum letzten August nichts davon gesagt, keine Silbe. Zu solch einer Gefühllosigkeit war nur ein absoluter Psychopath imstande. Kati Soisalo hielt sich nicht für einen rachsüchtigen Menschen, aber Jukka Ukkola würde sie das alles eines Tages mit Zins und Zinseszins heimzahlen, das war sicher. Sobald er verraten hatte, wo sich Vilma befand.
* * *
Leo Kara saß am Rand des großen, von Fahnen umkränzten Springbrunnens und betrachtete das Kongressgebäude und die Hochhäuser aus Beton und Glas, die an ein geschwungenes Ypsilon erinnerten. Neben dem Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung UNODC hatten darin auch viele andere Einrichtungen der Vereinten Nationen ihren Sitz, hier arbeiteten mehr als viertausend Menschen aus über hundert Ländern. Die Wiener hatten den Gebäudekomplex UNO-City getauft.
Am Vortag war er nach Wien zurückgekehrt, die Zeit seiner Krankschreibung hatte er in der Villa von Betha und Albert in Torquay an der englischen Riviera verbracht. Das waren für ihn die angenehmsten sechs Wochen seit vielen Jahren gewesen. An regnerischen Tagen hatten sie drinnen gesessen, Karten gespielt undAlberts brillantes Essen genossen. Und bei gutem Wetter hatten sie leichte Gartenarbeiten verrichtet und Krocket gespielt. Seine Wunden waren zwar verheilt und seine Kräfte wiederhergestellt, aber er hatte wochenlang gefaulenzt und dadurch zu viel Zeit gehabt, zu grübeln. Das hatte vermutlich dazu beigetragen, dass seine Erinnerungen wieder aufgetaucht waren. Das und Exelon, ein Medikament zur Behandlung von Gedächtnisstörungen nach Hirnverletzungen, das er bereits seit über einem halben Jahr einnahm. Er war schon vorher ein Nervenbündel und unberechenbar gewesen, aber so klapprig hatte er sich noch nie gefühlt. Schon allein der Gedanke, was möglicherweise noch passieren würde, machte ihm Angst. Das Morphium konnte auch nicht jeden Tag helfen.
Kara hätte gern mit jemandem geredet und Druck abgelassen. Vielleicht verstünde Betha, was im Oktober 1989 geschehen war und warum. Aber was wollte er ihr denn sagen? Sollte er eingestehen, schuld am Tod seiner Mutter zu sein? Über solche Dinge sprach man nicht am Telefon, zumindest er nicht. Und andere Gesprächspartner hatte er ganz einfach nicht, das war die Quittung, wenn man sich von den Menschen in seinem Umfeld abschottete.
Heute war der letzte Tag seines Genesungsurlaubs, aber der neue Generaldirektor des UNODC, der Däne Preben Leegaard, hatte ihn trotzdem zu sich gebeten,
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