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Rot

Rot

Titel: Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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blieb Kara an der Schwelle seines Zimmers stehen und schaute hinein: die Plakate von Fußballmannschaften und Samantha Fox waren verschwunden, die Wände schmückten jetzt Poster von Boygroups. Hier war er ins Teenageralter gekommen und hier hatte er seine Unschuld verloren. Es kam ihm so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Wut stieg in ihm hoch, zwanzig Jahre seines Lebens waren ihm verloren gegangen, weil sie ihm das alles angetan hatten.
    Kara verließ das Haus, stieg ins Taxi und knallte die Tür zu. »Und jetzt nach Marylebone. Zum Nightingale-Hospital, 11-19 Lisson Grove.« Er wollte Lilith Bellamy besuchen, das einzige erreichbare Mitglied jener Forschungsgruppe, die Vater hier in London vor seinem Verschwinden geleitet hatte.
    Als das Taxi zehn Minuten später am Krankenhaus hielt, war Karas Wut abgeflaut und hatte sich in Gereiztheit verwandelt. Er zahlte, stieg aus und atmete die frische Herbstluft tief ein. Jetzt musste er sich zusammennehmen und hoch konzentriert sein. LilithBellamy hatte seit Jahren paranoide Schizophrenie und litt unter schweren Wahnvorstellungen. Kara erinnerte sich noch gut, wie kompliziert und verwirrend ihr Treffen im August verlaufen war.
    Er marschierte in das freundlich und gemütlich eingerichtete Privatkrankenhaus und erblickte zu seiner Überraschung hier und da Gruppen von erregt diskutierenden Angehörigen und Mitarbeitern. Jemand rannte in vollem Tempo quer durchs Foyer.
    Am Empfang saß dieselbe höfliche Frau wie beim letzten Mal, auf sein Gedächtnis für Gesichter war immer noch Verlass. Ein Glück, wenigstens das funktionierte.
    »Ich wollte Lilith Bellamy besuchen«, verkündete Kara.
    »Bei uns ist der Strom ausgefallen, wir haben gerade das Reservesystem in Gang bekommen«, sagte die Frau, als sie bemerkte, wie sich Kara über das Gewimmel im Foyer wunderte, dann griff sie zum Telefonhörer und bat ihn, einen Moment zu warten.
    Es dauerte nicht einmal eine Minute, da traf Bellamys behandelnder Arzt Praveen Sharma im Laufschritt ein. Der Mann indischer Abstammung sah so aus, als erwartete er von ihm eine Erklärung : »Sind Sie daran schuld? Haben Sie mit Lilith Bellamy gesprochen? Wusste sie, dass Sie zu Besuch kommen?«
    Kara verstand nicht, wovon die Rede war. »Woran bin ich schuld?«
    Der Arzt musterte Kara mit seinen kohlrabenschwarzen Augen. »Lilith Bellamy ist verschwunden … hat ohne Erlaubnis ihr Zimmer … das Krankenhaus verlassen. Das muss innerhalb der letzten Stunde geschehen sein.«
    »War sie denn nicht freiwillig hier, das ist doch ein privates Krankenhaus.«
    »Ihr Zustand hat sich seit dem August … seit Ihrem Besuch erheblich verschlechtert«, entgegnete Praveen Sharma. »Sie kann auch mit entsprechenden Medikamenten nicht richtig schlafen und ist nicht imstande, ihre Wahnvorstellungen auch nur für einenAugenblick loszuwerden. Was zum Teufel haben Sie ihr im August erzählt?« Der Arzt war sichtlich aufgebracht, schien sein Verhalten jedoch sofort zu bereuen.
    »Haben Sie ihre Verwandten angerufen? Die bezahlen doch den ganzen Spaß, wenn ich mich recht entsinne«, erwiderte Kara.
    »Natürlich habe ich das«, fauchte Sharma ihn an. »Sie ist halb bekleidet losgegangen, hat nur die Sachen an, die sie hier im Haus trägt, und Sandalen. Ich glaube nicht, dass sie Geld mithat, höchstens ein paar Pfund. Die Verwandten geben ihr nur Geld für die Kantine, woanders kann man das hier auch gar nicht ausgeben.«
    »Hat sie eine Kreditkarte, ein Bankkonto … was hat sie mitgenommen?«, fragte Kara.
    Sharma schüttelte den Kopf. »Ein Konto hat sie nicht. Lilith steht unter der Vormundschaft ihres Bruders. Sie hat nur das, was sie anhat, eine Halskette und eine Taschenbibel mitgenommen. Ich habe das Zimmer gleich durchsucht …«
    »Wurde es der Polizei gemeldet?«, fragte Kara und Sharma nickte.
    Kara wandte sich zum Ausgang.
    »Wenn Lilith Bellamy die Selbstbeherrschung verliert, kann sie aggressiv, sogar gefährlich werden. Vor allem für sich selbst!«, rief Sharma ihm so laut hinterher, dass sich die Leute im Foyer umdrehten.
    Leo Kara verließ das Nightingale-Hospital und ging in Gedanken versunken zur Harewood Row. Wenig später hörte er einen undefinierbaren Lärm und sah vor der Metrostation Marylebone eine wogende Menschenmenge. Er ging näher heran, um herauszufinden, worum es sich handelte. Ein junger Mann in einem Dufflecoat mit Kapuze kam ihm entgegen und murmelte etwas vor sich hin.
    »Die ganze Londoner Metro steckt fest.

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