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Rot

Rot

Titel: Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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unterbrechen, hörte sie sich die minutenlange Litanei an, die schließlich mit einer Anweisung endete: »Du hast noch genug Zeit, deine Angelegenheiten zu regeln. Einigen wir uns darauf, dass du aus Finnland verschwindest, sagen wir, am nächsten Wochenende.«
    »Wer übernimmt dann meine Aufgaben, wem …«
    Der Vorsitzende unterbrach sie: »Jukka Ukkola ist von jetzt an für alle … heiklen Geschäfte zuständig.«
    »Ich bin sehr wohl imstande, die Dinge so zu organisieren …«
    »Am Wochenende«, wiederholte der Vorsitzende, und das Gespräch war zu Ende.
    Eeva Vanhala ging zum Barschrank, goss etwa vier Zentiliter Pastis in ein Glas, fügte in der Küche ein wenig Wasser hinzu und trat ans Fenster. An einer Kreuzung von fünf Straßen waren immer Leute unterwegs.
    Ihr blieb zu wenig Zeit, obwohl sie sofort Maßnahmen ergriffen hatte, um ihre Haut zu retten, als sie in der vorhergehenden Woche erfahren hatte, dass man bei den Ermittlungen zum Kabinett auf ihren Namen gestoßen war. Sie hatte einem alten Bekannten, dem Anwalt Ville Kärävä, Informationen aus dem Smirnow-Material übermittelt, die beweisen sollten, dass sie keine Schuld an den Verbrechen des Kabinetts trug. Das bedeutete allerdings, drei Kabinettsmitglieder zu opfern. Doch sie hatte nicht die geringste Absicht, ins Ausland zu fliehen und sich irgendwo zu verstecken, wo sie allein, unbekannt und unbedeutend war.
    Im Laufe der Jahre hatte sie Smirnows Material mit Bedacht und nur äußerst vorsichtig eingesetzt. Wenn sie einen neuen Posten wollte, eine Berufung oder einen Orden, hatte sie Kontakt zu einer Person aufgenommen, die dabei behilflich sein konnte, und nur im Bedarfsfall angedeutet, dass sie die Geheimnisse ihresOpfers kannte. Lediglich zweimal musste sie ein Dokument vorlegen, um ihr Opfer zu überzeugen. Doch jetzt war sie gezwungen gewesen, Kärävä etliche Dokumente preiszugeben, so viele, dass es reichte, um die Beweise der stellvertretenden Generalstaatsanwältin gegen sie zu entkräften.
    Wenn sie als Verräter entlarvt wurde oder wenn jemand erfuhr, dass sich Smirnows Material in ihrem Besitz befand, dann wäre sie verloren. Dieses Material steckte voller hochbrisanter Geheimnisse von Leuten, die in der finnischen Gesellschaft Macht ausübten. Also war niemand, der in Finnland etwas darstellte, daran interessiert, dass der Inhalt der Dokumente an die Öffentlichkeit gelangte – das würde für jeden von ihnen den Untergang bedeuten, auch für sie selbst.
    Plötzlich fiel Eeva Vanhala ein Fußgänger in einer Allwetterjacke auf, der unten an der Kreuzung vor dem Schallplattengeschäft von Digelius stand. Der breitschultrige Mann wirkte angespannt, schaute kurz auf seine Uhr und dann nach oben – direkt zu ihren Fenstern. Eeva Vanhala wäre fast das Glas aus der Hand gefallen. Warum hatte der Vorsitzende des Kabinetts ihr befohlen, zu einer bestimmten Uhrzeit daheim zu sein? Er hätte sie schließlich auch auf ihrem Handy anrufen können, sie wussten beide genau, dass ihre Telefone von niemandem abgehört wurden. Wollte man sie zwingen, Finnland zu verlassen? Oder hatte man noch etwas Schlimmeres vor?
    Ihr Puls raste, sie durfte jetzt nicht in Panik verfallen, sondern musste nachdenken. Sie hatte Vorkehrungen für so gut wie alle vorstellbaren Probleme getroffen, aber auf den Gedanken, irgendwann Hals über Kopf fliehen zu müssen, war sie nie gekommen. Immer hatte sie sich eingebildet, ihr Netzwerk von Kontakten würde sie rechtzeitig über alle möglichen Gefahren unterrichten. Für eine Flucht war sie nicht geeignet, ihre größte sportliche Leistung bestand darin, dass sie einst schwimmen gelernt hatte.
    Der Mann draußen überwachte die Haustür, und über den Hinterhofkonnte nur ein Akrobat fliehen, der imstande war, eine drei Meter hohe Mauer zu überwinden. Ihr blieb nur eine Möglichkeit. Das Atmen fiel ihr schwer, sie erkannte die ersten Anzeichen eines Anfalls ihrer Panikstörung. Rasch ging sie zu ihrem Medizinschrank, schüttelte zwei Betablocker auf den Handteller und spülte sie mit ihrem Drink hinunter. Dann schaute sie kurz hinunter auf die Kreuzung und sah nur Autos, zwei Schüler mit Ranzen auf dem Rücken und eine alte Frau, die einen Einkaufsbeutel schleppte. War der Mann schon auf dem Weg zu ihrer Wohnung?
    Eeva Vanhala riss den Mullverband unter ihren Augen ab, zog blitzschnell den Mantel an und steckte den Schlüssel ein. Im Arbeitszimmer stopfte sie einen Stapel Unterlagen in ihre Umhängetasche,

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