Rot
in einer Sackgasse zu stecken.«
»Das darf aber nicht sein!«, erwiderte Nadine gereizt. »Ich habe wegen Bruno auf verdammt viele Dinge verzichtet. Wenn ich den Jungen jetzt seinem Schicksal überlasse, wird aus ihm irgendein Gangster.«
»Was glaubst du denn, was du tun könntest?«, fragte Kara vorsichtig. »Du hast doch das Geld nicht, zumindestens nicht die Summen, von denen du gesprochen hat. Du kannst Brunos Schulden nicht bezahlen, auch wenn du es möchtest.«
»Das stimmt. Ich bin schon bei zwei Banken gewesen und bekäme nur einen zusätzlichen Kredit von höchstens fünfzigtausend Euro.«
»Ungefähr so viel könnte ich dir leihen«, schlug Kara vor.
Nadine lachte, schüttelte den Kopf und wurde wieder ernst. »Keiner von uns beiden hat viel von seiner Vergangenheit erzählt. Aber du weißt zumindest, dass ich schon als Teenager um ein Haar mein Leben ruiniert hätte. Seit meinem dreizehnten Geburtstag hatte ich Zoff mit meinem Vater. Dreimal bin ich von zu Hause abgehauen, aber Vater hat mich jedes Mal mit Gewalt zurückgeholt. Beim vierten Mal bin ich zu Brunos Vater Stefan gezogen. Ich war sechzehn und schwanger. In Österreich darf eine Sechzehnjährige bei ihren Eltern ausziehen, wenn sie nachweist, dass sie für ihren Lebensunterhalt sorgen kann. Und mit Stefans Hilfe konnte ich das.«
»Anscheinend warst du auch nicht gerade ein leichter Fall.«
Nadine zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort. »Stefan war Narkomane und Drogendealer. Er hat den Schülern in München Speed, Hasch und Khat verkauft. Verdammt, ich begreife immer noch nicht, wie ich auf diesen Loser fliegen konnte. Vielleicht, weil ich selber Stoff genommen habe, bevor ich schwanger wurde. Ich weiß ganz genau, wie schwierig es ist, aus der Drogenhöllerauszukommen. Bruno ist kein schlechter Junge, er müsste nur sein Leben auf die Reihe kriegen, etwas finden, was ihn ausfüllt.«
Kara fiel dazu kein passender Kommentar ein, also schwieg er.
»Mein Vater wollte mich seinerzeit nicht nur zwingen, wieder nach Hause zu kommen, sondern auch das Kind abtreiben zu lassen. Als ich dazu nicht bereit war, hat das Schwein versucht, mich in den Zwangsentzug zu stecken. Er hat Druck auf die Behörden ausgeübt und von bestochenen Jugendpsychiatern Gutachten eingeholt, denen zufolge ich unter schweren Depressionen litt und …«
»Alles Verrückte, die ganze Familie.« Die kaum hörbare Bemerkung rutschte Kara heraus. »Wieso war dein Vater dazu in der Lage? Was ist er eigentlich für ein Mann?«
»Anton Moser, einer der einflussreichsten Geschäftsleute in Österreich, der Generaldirektor des AEM-Konzerns. Ich habe den Mädchennamen meiner Mutter angenommen, als ich volljährig wurde. Mit Vater habe ich neunzehn Jahre lang kein Wort gesprochen.«
Kara wurde klar, was sie vorhatte: »Du hast die Absicht, deinen Vater um Hilfe zu bitten.«
»Ich muss den Hut in die Hand nehmen und betteln gehen. Das ist Brunos einzige Chance.«
3
Mittwoch, 5. Oktober
Mit blassem Gesicht saß Eeva Vanhala im Arbeitszimmer ihrer Wohnung an der Viiskulma, einer Kreuzung von fünf Straßen im Zentrum Helsinkis, und erwartete einen Anruf. Sie berührte den Mull auf ihren Tränensäcken. Dass ihr Lebensgefährte Mikael aus heiterem Himmel einfach so ausgezogen war, wegen eines polnischen Musikerflittchens, war also doch nicht das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Als sie abends an seinem Schlafshirt gerochen hatte, war sie davon noch überzeugt gewesen. Bis der Vorsitzende des Kabinetts ihr vor einer Stunde mitgeteilt hatte, er wolle heute Morgen genau um neun Uhr mit ihr sprechen. Das war noch nie vorgekommen und verstieß gegen alle Regeln. Die Mitglieder des Kabinetts redeten ausnahmslos nur miteinander, wenn sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, doch jetzt wollte der Vorsitzende sie während einer Zwischenlandung auf dem Rückflug von Dubai anrufen. Es kündigten sich also außerordentlich große Probleme an. Eeva Vanhala wusste natürlich, worum es bei dem Gespräch gehen würde: Die für die Ermittlungen zum Kabinett zuständige stellvertretende Generalstaatsanwältin war bei den Untersuchungen auf ihren Namen gestoßen.
Schweiß rann über ihre Schläfen und brannte in den Augen, der Mull wurde allmählich feucht. Die ganze Operation zur Entfernung der Tränensäcke war Blödsinn gewesen. Als Mikael sie verlassen hatte, war sie aus Sorge um den zunehmenden Verfall ihres äußeren Erscheinungsbilds zu dem Entschluss
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