Rot
öffnete dann die Wohnungstür vorsichtig und hörte im Treppenhaus Schritte, die näherkamen. Sie schloss die Tür leise von außen, zog die Schuhe aus und schlich hinauf in die oberste Etage. Dieses Haus kannte sie wie ihre Westentasche, sie wohnte schon fast ein Leben lang in dem Gebäude, zunächst als Kind mit den Eltern im ersten Stock und nun in ihrer eigenen Wohnung im dritten Stock.
Die feuersichere Dachbodentür knarrte, die staubige, muffige Luft schlug ihr entgegen wie eine Kindheitserinnerung. Im Treppenhaus hörte man Schritte, ihrer Meinung nach war das der Mann, der sie observierte. Sie schloss die Tür, schaltete das Licht ein und ging zu der etwa zwei Meter hohen Leiter aus Aluminium, dort hängte sie sich ihre Tasche um den Hals und stopfte sie unter den Mantel. Dann stieg sie die Leiter hoch, stieß die blecherne Dachluke auf und ließ sie an der Kette hängen. Als Kind hatte sie nie gewagt, den Jungs auf das abschüssige Blechdach in schwindelerregender Höhe zu folgen. Sie kletterte hinaus und hielt sich mit beiden Händen an den Trittstufen fest, die zum Schornstein führten. So verdammt hoch war das? Ihr wurde ganz flau im Magen, als sie hinabschaute und unter sich Helsinki sah und das Meer, so weit das Auge reichte.
Eeva Vanhala heftete den Blick auf die Trittstufen und bewegte sich langsam und vorsichtig auf allen vieren vorwärts. Sie brauchte über zehn Minuten bis zum Schornstein, dort ruhte sie sich einen Augenblick aus und kroch dann weiter. Nach einer Viertelstunde änderte sich die Farbe des Bleches, sie hatte das Dach des Nachbarhauses erreicht. Der Wind wehte ihr um die Ohren, aber sie hörte nur, wie ihr Puls hämmerte.
Schließlich sank Eeva Vanhala erschöpft auf die Dachluke des Nachbarhauses und schnappte nach Luft. Ein paar Minuten später stieg sie die Treppe hinab. Vorsichtig spähte sie durch die gläserne Haustür hinüber zur Kreuzung und zuckte so heftig zurück, dass ihr Genick schmerzte – der Mann in der Allwetterjacke stand jetzt dreißig Meter entfernt vor dem Friseurgeschäft. Sollte sie es wagen hinauszugehen? Er konnte nicht annehmen, dass sie aus diesem Haus auftauchte.
Plötzlich sah Eeva Vanhala auf der Fredrikinkatu eine Straßenbahn kommen, die Gott sei dank genau zwischen ihr und dem Mann anhielt. Rasch verließ sie das Haus und ging in aller Ruhe bis zur Merimiehenkatu. Dann beschleunigte sie ihr Tempo, schaute mehrmals über die Schulter zurück und keuchte vor Angst. Würde der Mann hinter ihr auftauchen? Auf der Albertinkatu beruhigte sie sich ein wenig, holte das Handy aus der Tasche und bestellte ein Taxi zum Restaurant Rafla in der Uudenmaankatu, bis dahin waren es etwa zweihundert Meter. Der Wagen kam erstaunlicherweise schon einige Minuten später. Sie bat den Fahrer, nach Kirkkonummi zu fahren und wurde erst ruhiger, als das Auto in Ruoholahti auf den Länsiväylä einbog. Dann rief sie ihre Sekretärin an und meldete sich krank.
Eeva Vanhala wusste genau, wie ihr die stellvertretende Generalstaatsanwältin auf die Spur gekommen war. Sie verfluchte den Anwalt Eero Palomaa einmal mehr. Der Mann, der für die Buchhaltung des Kabinetts zuständig gewesen war, hatte der Polizei vor etwa zwei Monaten Beweise für die Existenz des Kabinetts überlassen,um seine eigene Haut zu retten. Dieser Mistkerl hatte beschrieben, wie das Kabinett 1981 gegründet worden war. Sein Kern bestand aus Helfern des KGB und hatte viele Kanäle der Machtausübung Präsident Kekkonens nach dessen Erkrankung unter seine Kontrolle gebracht. Palomaa hatte verraten, wie das Kabinett Ende der achtziger Jahre gestärkt worden war und wie der Kreml und der KGB den vom Kabinett gegründeten Tarnfirmen riesige Summen überwiesen hatten.
Dieser aalglatte Jurist hatte den Behörden auch über die Ereignisse während des Zerfalls der Sowjetunion berichtet. Wie die große Krise in Finnland Ende der Achtziger Jahre von Moskau aus eingeleitet wurde und wie die Neuaufteilung von Finnlands Eigentum und die Sanierung seines Unternehmensbestands genau zu dem Zeitpunkt erfolgte, als das mit dem KGB kooperierende Kabinett über Milliarden verfügte. Und in Palomaas Bericht wurde auch verraten, dass man das Kabinett dafür eingespannt hatte, in Zusammenarbeit mit den russischen Nachrichtendiensten die Interessen des Kreml zu vertreten. Am verhängnisvollsten war jedoch, dass Palomaa auch den Zweck des Kabinetts erklärt hatte.
Eeva Vanhala holte Palomaas Bericht aus ihrer Umhängetasche
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