Rot
Dinge passiert. Und in Wien? Wie läuft es auf Arbeit?«
Kara zögerte einen Augenblick und hörte sich dann sagen: »Ich erinnere mich jetzt an alles.«
»An alles?«, fragte Betha verblüfft.
»An alles, was ich damals gesehen habe«, antwortete Kara und erzählte Betha ausführlich, was im Oktober 1989 geschehen war.
Betha Gilmartin unterbrach seinen Bericht kein einziges Mal. Als Kara am Ende angelangt war, ordnete sie eine Weile ihre Gedanken und sagte dann: »Also keine große Überraschungen.«Sie wagte nicht zu fragen, was Leo über den Tod seiner Mutter dachte.
Um ein Haar hätte Kara sie wegen ihrer geringschätzigen Bemerkung angefahren, dann nahm er sich jedoch vor, am Telefon nicht weiter über diese Angelegenheit zu reden. »Ich habe letzte Nacht eine Nachricht von meinem Vater erhalten. Deswegen rufe ich an. Ich wollte hören, ob der SIS etwas Neues in Erfahrung gebracht hat.«
»Ich bin erst seit etwa zwei Stunden im Dienst«, erwiderte Betha. »Ich weiß genau so viel wie am Montag, als du Torquay verlassen hast. Was hat dein Vater in seiner Nachricht geschrieben?«
»Er vermutet, dass er sich mit anderen Wissenschaftlern zusammen jetzt in Mitteleuropa befindet. Und er bittet mich erneut, ich soll nicht versuchen herauszufinden, was im Oktober 89 passiert ist.«
»Das ist ein sehr kluger Ratschlag«, sagte Betha, während jemand anklopfte. »Ich lasse mir hier eine aktuelle Zusammenfassung der Ermittlungen zu Mundus Novus bringen, die brauche ich selbst auch. Wir kommen darauf zurück.« Sie beendete das Gespräch und ging zur Tür.
Betha Gilmartin nahm den Bericht, den ihr die Sekretärin reichte, und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie machte sich Sorgen um Leo. Nach Ansicht der Psychiater war es nicht immer wünschenswert, dass ein Patient seine Erinnerungen an extrem traumatische Erlebnisse wiedererlangte. Einige waren daran psychisch zerbrochen. Sie hoffte jedoch, dass es für Leo den Beginn einer neuen Zukunft bedeutete, oder vielmehr die Rückkehr zu seinem alten Zustand von damals. Bei ihren Befragungen der Verwandten und Bekannten Leos im Jahre 1989 hatte sie erfahren, dass der Junge vor jenen Oktobertagen ein ganz normaler Jugendlicher gewesen war. In den zurückliegenden Wochen hatte sie diesen verloren geglaubten jungen Mann andeutungsweise erlebt, inTorquay, wo sie ihre Urlaubstage wie eine richtige Familie verbracht hatten.
Ihr Blick wanderte über den Schreibtisch und blieb bei dem Bericht hängen, den die Sekretärin eben gebracht hatte. Durch die Überschrift schwenkten ihre Gedanken weg von Leo und hin zu – Andrej Rostow. Das Lesen der Mappe mit den Informationen nahm nicht viel Zeit in Anspruch, nur einige Sekunden: In den letzten zwei Monaten hatte man über den Leiter des Forschungszentrums von Mundus Novus in Weißrussland praktisch nichts herausgefunden. Es war so, als würde Andrej Rostow überhaupt nicht existieren.
11
Donnerstag, 6. Oktober
Eeva Vanhala wachte auf. Sie saß in der Stube ihres Verstecks auf dem Dielenboden und sah sich in einem großen Spiegel, der vor ihr an der Wand lehnte. Tränen liefen über ihre Wangen, auf die Lippen, vermischten sich mit Schweiß und wurden von dem Stoffpfropfen aufgesaugt, den man ihr in den Mund gestopft hatte. Es schmeckte nach Salz. Was auch immer da ihren Kopf bedeckte, es war nass, spannte schmerzhaft und stank widerlich. Die Angst jagte den Puls in die Höhe, ihr ganzer Körper pochte. Sie musste tief Luft holen und weitete dabei die Nasenlöcher so sehr, dass sie fast platzten. Dann schloss sie die Augen, sie wollte das alles nicht sehen, sie wollte zurück in die Dunkelheit.
Sie versuchte die Hand zu heben, aber die ließ sich nicht bewegen. Also war sie gezwungen, ihre Augen wieder zu öffnen. Im Spiegel erblickte sie straffe Lederriemen, die um ihre Handgelenke gewickelt und auf den Dielen festgenagelt waren. Eine Art Tierhaut bedeckte ihren Kopf. Sie spürte das Leder auf der nackten Haut, man hatte ihr Haar geschoren. Und einen Meter entfernt stand eine auf ihren Kopf gerichtete UV-Licht-Lampe. Was zum Teufel ging hier vor?
Wo war der Asiat? Sie versuchte sich zu beruhigen, um mehr zu hören als nur ihren Herzschlag. Nichts. Aber in der Hütte befand sich außer ihr noch jemand, da war sie sich ganz sicher, sie spürte das. Es konnte doch nicht sein, dass alles so aufhörte. Ihr Ende konnte doch nicht so aussehen. Natürlich wusste sie, dass in der Welt grausame, widerwärtige Dinge geschahen, aber sie
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