Rot
Präsidentin am Mittwochmorgen krankgemeldet. Ihre Wohnung ist leer, die Nachbarn wissen nichts, Verwandte hat sie so gut wie keine, in den Ordnern mit Visitenkarten und bei ihren Facebook-Freunden findet man so viele Namen, dass es Tage in Anspruch nehmen wird, all ihre Bekannten anzurufen, und ihr Handy lässt sich nicht orten.«
»Wir schreiben sie zur Fahndung aus«, sagte Lukkari.
* * *
Die Wände des Tunnels sind aus Glas, es ist hell, aber nicht klar, ich schwebe, fliege aber nicht. Am Ende des Tunnels schimmert etwas in einem gebrochenen Blau, ich komme näher, sehe, dass es ein See ist. Die Luft kann man anfassen, sie ist voller großer Schneeflocken, die nicht zu Boden fallen, nirgendwo sind Schneewehen zu sehen. Ich erreiche den See und werfe mich in den schwebenden Schnee, ich bin schwerelos, ich kann auf der Luft liegen, in sie eintauchen wie ein Pinguin. Die vollkommene Ruhe wird gestört, als sich eine dunkle Gestalt nähert, ich weiß nicht, was oder wer das ist, habe Angst, sie kommt direkt auf mich zu.
Eeva Vanhala wachte auf und öffnete die Augen, aber die Dunkelheit wich nicht, es war Abend oder Nacht. Salzige Tränen rannen über ihre Lippen, und der Durst wurde immer größer, die ausgetrockneten Schleimhäute in Mund und Hals schienen mit Sand bedeckt zu sein. Bald würde das Kamelleder ihren Kopf zusammenquetschen, es drückte schon die Augäpfel immer weiter hinaus aus den Augenhöhlen. Wangen, Nase und Lippen wurden zusammengepresst wie Teig. Sie hörte, wie die Knochen und Knorpel ihres Schädels knackten. Der Schmerz beherrschte alles. Der ekelhafte Gestank der Kopfpresse sorgte dafür, dass ihr speiübel war, sie musste mit aller Kraft dagegen ankämpfen – wenn sie sich mit dem Knebel im Mund übergab, würde sie ersticken. Die UV-Lampe strahlte Wärme aus, die Haut im Genick brannte und ihr Hemd war schweißnass. Noch niemals hatte sie sich etwas so inständig gewünscht wie diesem Alptraum zu entkommen.
Wovon war sie aufgewacht? Kehrte der Mann zurück? Wurde sie endlich aus dieser teuflischen Presse befreit? Eeva Vanhala hörte nichts anderes als das Knarren ihrer Knochen, aber sie spürte etwas. Der Asiat stand doch nicht etwa in diesem stockdunklen Zimmer? Sie müsste sich etwas einfallen lassen, versuchen zu fliehen, aber ihre Fesseln saßen zu straff. Und durch die Schmerzen schaffte sie es einfach nicht nachzudenken. Sie wusste nicht, wie sie das Smirnow-Material aus dem Gebäude der KRP holen sollte. Aber genau diese Frage würde der Mann ihr stellen, wenn er zurückkehrte. Hoffentlich kehrte er zurück, und zwar bald. Sie würde das nicht mehr lange aushalten.
Vor kurzem war ihr Leben noch himmlisch schön gewesen, das wurde ihr jetzt so klar wie noch nie irgendetwas. Alles würde sie dafür geben, wenn sie ihr bisheriges Leben zurückbekäme. Sie würde sich nie mehr beklagen, ihre Einsamkeit genießen, essen, bis sie aus allen Nähten platzte, jeden Augenblick genießen …
Das Licht ging so überraschend an, dass Eeva Vanhala aufschrie und schluckte – der Knebel drang in ihre Kehle, sie räusperte sichvergeblich. Dann zog der Kirgise den Stoffpfropfen heraus. Er schaltete die Lampe aus und strich über den Lederhelm, der ihren Kopf bedeckte.
»Anscheinend bin ich gerade noch rechtzeitig zurückgekommen. Das Kamelleder ist schon vollkommen trocken«, sagte Manas, nahm die Kopfbedeckung ab und runzelte die Stirn, als Eeva Vanhala vor Schmerz aufstöhnte. Er setzte sich auf den Hocker und betrachtete die kahl geschorene Frau, deren Augen von bodenloser Angst zeugten. Die hatte er als zweitstärkstes aller Gefühle eingestuft. Offenbar brachte nur der Hass Menschen noch wirkungsvoller aus der Fassung.
»Ist dir schon eingefallen, wie ich dein Material aus der KRP bekomme?«, fragte Manas.
Eeva Vanhala erschrak. »Ich war nicht imstande, auch nur einen Augenblick lang nachzudenken mit diesem … diesem Ding auf dem Kopf. Gib mir etwas Zeit«, bettelte sie, aber der Kirgise schüttelte den Kopf und stand auf.
»Ich gebe dir eine Minute«, erwiderte er, nahm das Leder und ging in die Küche, um es anzufeuchten.
Seine Gefangene zwang ihr Gehirn, zu arbeiten. Nur jemand von der KRP wäre in der Lage, das Smirnow-Material aus dem Hauptquartier in Jokiniemi zu holen, aber von den Mitarbeitern des Hauses kannte sie lediglich Jukka Ukkola. Beamte des Innenministeriums oder der SUPO wären in diesem Fall keine Hilfe. Wenn sie doch nur an ihre Ordner mit den Visitenkarten
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