Rot
Bericht, der auf ihrem Schreibtisch lag, tauchte mit den Fingern tief in ihre rote Mähne, kratzte sich und schnaufte vor Wut, als sie die Ergebnisse von Clive Grovers Verhören las. Eigentlich war sie noch krankgeschrieben, aber in den Genesungsurlaub würde sie keiner zurückbringen, nicht mal mit der Planierraupe. Die dreißig Jahre Arbeit im SIS hatten sie gelehrt, alles anzuzweifeln, niemandem zu vertrauen und nie überrascht zu sein, aber sie würde dennoch nicht aufhören sich zu wundern, wie viel Falschheit in einem Menschen verborgen sein konnte.
Sie hatte das Gefühl, in den Schatten zu versinken, auf nichts konnte man sich mehr verlassen. Clive Grover war jahrelang ihr engster Mitarbeiter gewesen, doch allein während der letzten zwei Jahre hatte er den Zweiten Botschaftssekretär der russischen Botschaft in London Wasili Golowkin achtunddreißigmal getroffen. Und das auf öffentlichen Plätzen, vor aller Augen: im RestaurantDar Marrakesch am Piccadilly Circus, im Hotel Millennium am Grosvenor Square, in der Sushi-Bar des Warenhauses Harrods, bei einem Heimspiel von Arsenal im Ashburton Grove …
Plötzlich trat die junge Analytikerin Colleen Carter vom Yankee-Desk in Betha Gilmartins Zimmer, ohne anzuklopfen. Sie trug einen stahlblauen Blazer und lächelte siegessicher.
»Das ist hier keine Drehtür wie im Supermarkt, ich habe eine Sekretärin, die Termine vergibt!«, rief Betha Gilmartin wutentbrannt. Instinktiv schaute sie auf ihr Handgelenk, erblickte statt des Pulsmessers die Uhr, die ihr Albert vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und beruhigte sich augenblicklich.
Colleen Carter bat um Entschuldigung und wandte sich zur Tür, um wieder zu gehen.
»Na nun komm, Mädel, und sag, was du hast, wenn du schon mal hier bist.«
»Die Lage in den USA und Kanada normalisiert sich langsam wieder, und allmählich auch in Lateinamerika. Und das Wichtigste ist: Die USA glauben nicht mehr, dass die Katastrophe von heute Morgen ein Überraschungsangriff gegen ihre Satelliten war. Aber die Yankees fordern in ziemlich scharfem Ton, dass die Ermittlungen zu Mundus Novus erfolgreich abgeschlossen und alle offenen Fragen geklärt werden. Sie wollen das Lasersystem finden, mit dem die chinesische Trägerrakete im August abgeschossen wurde. Und auch alle anderen Waffen, die Satelliten auf der Umlaufbahn zerstören können. Die Vernichtung dieser drei Satelliten hat angeblich bedeutend mehr Schäden verursacht, als sie in ihren Berechnungen angenommen hatten. Ihrer Ansicht nach würde schon der plötzliche Verlust von vier, fünf oder sechs Satelliten eine beispiellose und unumkehrbare Katastrophe auslösen, die sich die Menschheit ganz einfach nicht leisten kann.«
»Die sind ganz schön geladen, oder?« Betha Gilmartin lächelte.
»Sie haben hunderte Seiten geschickt. Hör dir mal diese Ergüsse an.« Colleen Carter blätterte in ihrem Papierbündel.
»Der Weltraum ist der Kern unserer Verteidigung: Den USA gehört etwa die Hälfte aller Satelliten auf einer Umlaufbahn, so viel wie allen anderen Staaten zusammen.«
»Der Weltraum ist das Rückgrat unserer nationalen Sicherheit, zur militärischen Inbesitznahme des Weltraums gibt es keine Alternative.«
»Die Verteidigung Amerikas in einer sich verändernden Welt erfordert die völlige Kontrolle über den Weltraum.«
Betha Gilmartin wirkte nicht überrascht. »In der Kriegsgeschichte ist derjenige, der den höchsten Punkt des Schlachtfelds beherrscht, seinem Gegner gegenüber immer im Vorteil gewesen. Und heutzutage ist dieser höchste Punkt der Weltraum.«
»In der privaten Raumfahrtindustrie zirkulieren heute gewaltige Summen, zweihundertfünfzig Milliarden Dollar pro Jahr«, fügte Colleen Carter hinzu und schnaubte abfällig. »Darum geht es doch bei den Yankees letztlich immer – ums Geld.«
»Setz dich«, befahl Betha Gilmartin, drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und bat den Leiter der Abteilung Unterstützungsprozesse des SIS zu sich. Sie war schon im Begriff aufzustehen, um sich die Beine zu vertreten, doch im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie ja ihr Korsett nicht angelegt hatte, weil Colleen Carter ins Zimmer gestürmt war. Die junge Powerfrau saß im Ledersessel und sah so aus, als würde sie genau hierher gehören, in den zweitwichtigsten Raum des renommiertesten Nachrichtendienstes der Welt. Und diese selbstbewusste Einstellung war auch angebracht, sagte sich Betha Gilmartin. Um in dieser erzkonservativen und von alten
Weitere Kostenlose Bücher