Rote Gruetze mit Schuss
Kilometer vom Haupthaus entfernt. Das Gebäude, in dem früher mehrere Kutschen und landwirtschaftliches Gerät untergebracht waren, wird seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und rottet langsam vor sich hin. Eine historische Kutsche, die zum letzten Mal bei der nun schon länger zurückliegenden Hochzeit von Onno und Huberta von Rissen im Einsatz war, fristet dort ihr Dasein. Im Winter stellt Huberta von Rissen ihr englischgrünes MG-Oldtimer-Cabrio dazu.
In dem niedrigen Raum scheint die Zeit stillzustehen. Ein ganzes Sammelsurium ausgedienter Gerätschaften findet sich hier mittlerweile, alte Forken, ein gammeliges Jauchefass, Holzrechen und Sicheln. Ein vorsintflutlicher pferdebetriebener Heuwender ist über und über mit Spinnweben bedeckt. Neben einem Kiefernschrank lehnen ein doppelläufiges, leicht angerostetes Jagdgewehr und eine altertümliche Sense. Gegenüber steht ein schwerer alter Postschrank mit vielen kleinen Schließfächern, deren einzelne Türchen mit Symbolen gekennzeichnet sind: einer Eichel, einem Kleeblatt, einem Keilerkopf und einem Hasen.
In der ehemaligen Kutscherkammer, die früher einmal als Schlafraum und Küche diente, findet man allerdings durchaus Hinweise auf Besucher. Der alte Kohleherd ist eindeutig in diesem Winter beheizt worden, denn neben dem Herd liegt ein kleiner Stapel frisch geschlagenes Holz. Auf dem wurmstichigen Holztisch stehen eine halb geleerte Sektflasche und zwei Gläser. Gegenüber des etwas mitgenommen aussehenden Bettes hängt eine Jagdtrophäe an der Wand, ein Elchkopf, den der alte August von Rissen, Vater des heutigen Gutsherrn, als junger Mann in den Dreißigerjahren bei einer Jagd im schwedischen Nordvärmland geschossen haben soll. Der Elch schaut recht freundlich auf die heutigen Besucher hinunter, als würde es ihn amüsieren, was sich in letzter Zeit vor seinen Augen alles abgespielt hat. Nachdem sich in den letzten dreißig Jahren hier kaum jemand hat blicken lassen, ist nun wieder ordentlich Leben in die Bude gekommen. Dafür sorgen unter anderen Swaantje Ketels und Jörn Brodersen, die sich regelmäßig für ihre Rendezvous in der Remise einfinden.
Schon auf Schützenfesten und Dorfhochzeiten hatten die beiden kaum voneinander lassen können: die blonde Swaantje, die für die norddeutsche Provinz eigentlich viel zu hübsch ist und schon zu Husumer Tanzstundenzeiten einer ganzen Generation friesischer Jungs den Kopf verdreht hatte, und der smarte Biobauer und aufreizende Tänzer Jörn Brodersen, der gar nicht so heimliche Traum vieler Fredenbüller Damenkränzchen.
»Er sieht immer ’n büschen aus wie dieser Arzt vonder Nationalmannschaft«, meint Piet Paulsen. »Hier, wie heißt der noch mal, Müller-Dings?«
Postbote Klaas ist da gänzlich anderer Meinung und schüttelt an dieser Stelle regelmäßig den Kopf.
»Wieso nicht?«, fragt Paulsen dann. »Nu stell dir Brodersen mal rasiert vor, ’n büschen älter und im Trainingsanzug.«
Wenn Swaantje und Brodersen zu den Klängen von Bountys Band »Stormy Weather« durch den Tanzsaal schweben, folgt ihnen die versammelte Fredenbüller Schützenfestgemeinde mit offenem Mund und eifersüchtigen Blicken. Und bei Bountys achtzehnminütiger Coverversion von ›Samba Pa Ti‹ weht ein Hauch von Copacabana über den nordfriesischen Deich. Heute Nacht will sich allerdings keine rechte Romantik einstellen.
Swaantje liegt auf dem durchgelegenen Bett, nackt, notdürftig in die alte Wolldecke gehüllt. Sie sieht erhitzt und verheult aus. Nur die neue Frisur aus dem Salon Alexandra sitzt perfekt. Brodersen, ebenfalls nackt, läuft vor dem Elchkopf auf und ab. Er wirkt hektisch, aber irgendwie sportlich, tatsächlich wie dieser Doktor der Nationalmannschaft, nur eben ohne Trainingsanzug.
»Und was sollen wir jetzt bitte tun?« Swaantje wischt sich wütend ein paar Tränen mit der Wolldecke aus dem Gesicht und entblößt dabei kurz ihre Brüste. Sie sieht Brodersen vorwurfsvoll an.
»Soll das denn auf einmal alles nicht mehr gewesen sein?«
»Doch, natürlich, aber ...« Brodersen bleibt stehenund blickt kurz zu ihr. Seine blauen Augen leuchten in der dunklen Remise.
»Ich hab mich von Leif getrennt«, Swaantje wird jetzt laut. »Ich hab meine Sachen gepackt und bei Renate untergestellt. Verdammt, wir haben uns das immer wieder ausgemalt, zigmal. Wir wollten doch zusammen hier weg.«
Brodersen sucht verlegen nach seinen auf dem Boden verteilten Klamotten, aus denen er eben noch gar nicht schnell genug
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