Rote Jägerin - Wells, J: Rote Jägerin - Red-Headed Stepchild
damals eine andere Geschichte erzählt. Phoebe zufolge verschwand dein Vater eines Tages spurlos und wurde dann irgendwann für tot erklärt. Seine Leiche wurde nie gefunden.«
Ich runzelte die Stirn. Zum ersten Mal in dieser Nacht fragte ich mich, ob ihr Gedächtnis tatsächlich so zuverlässig war, wie ich das bisher angenommen hatte. »Das kann nicht sein. Warum sollte man ihn für tot erklären lassen, wenn man seine Leiche nie gefunden hat?«
Adam räusperte sich und begann auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er sah mich nicht an.
»Phoebe erzählte mir, dass man in seinem Zimmer Blutspuren gefunden hätte«, sagte Briallen.
»Vielleicht wollte meine Großmutter meiner Mutter einfach nicht noch mehr zumuten?«, vermutete ich.
Die Fee runzelte die Stirn. Sie wirkte nicht überzeugt. »Vielleicht«, erwiderte sie trotzdem. »Das wird wohl leider ein Geheimnis bleiben, das wir zumindest heute Nacht nicht mehr lösen können. Aber ganz gleich, unter welchen Umständen dein Vater verschwunden ist, es war jedenfalls offensichtlich, dass Phoebe zutiefst verzweifelt war. Wie konnte es auch anders sein? Die ganze Geschichte hatte etwas von einer griechischen Tragödie an sich.
Über eine Sache war ich allerdings froh. Es schien ihr Herz ein wenig zu erleichtern, mit mir darüber sprechen zu können – über die Dinge, die vorgefallen waren, ebenso wie über jene, die noch kommen sollten. Sie hatte sonst niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, und ich übernahm gern die Rolle ihrer Vertrauten. In meinen monatlichen Berichten an die Dominae und den Rat der Hekate ließ ich diese Gespräche jedoch außer Acht. Ich
ging nur auf ihre blühende Gesundheit und die Tatsache ein, dass ihr Bauch immer größer wurde.
Er wurde sogar größer, als es normalerweise der Fall ist. Damals gab es bei uns noch keine Apparate wie ein Ultraschallgerät, um sich das Innere des Bauchs anzusehen, aber ich kannte auch ohne solche Hilfsmittel den Grund für dieses ungewöhnliche Wachstum.«
Adam drückte meine Finger so heftig, dass ich ihm einen verärgerten Blick zuwarf. Doch etwas in seiner Miene ließ mich innehalten. Ich wollte ihn gerade fragen, was denn los sei, als Briallen weitererzählte.
»Phoebe befand sich im siebten Monat ihrer Schwangerschaft, als ich ihr mitteilte, dass sie sich auf Zwillinge freuen könne.«
Ich sprang so schnell auf, dass ich selbst kaum merkte, was ich tat. »Was?« Durch meine Adern schien plötzlich Koffein zu fließen.
Briallen fuhr zurück. In ihrem Gesicht spiegelten sich Verwirrung und Entsetzen wider. »Ich … Soll das heißen, du wusstest nichts davon? Wie ist das möglich?«
Ich drehte mich zu Adam. »Für wen hältst du mich eigentlich? Wer ist diese Frau?«
Er hielt beruhigend eine Hand hoch. »Sabina«, sagte er so sanft wie möglich, als müsse er ein wild gewordenes Tier bändigen.
»Lass das Sabina-Gequatsche! Welches Spiel treibst du mit mir? Wie viel hast du ihr bezahlt, damit sie solche Lügen erzählt?«
Die Fee war ebenfalls aufgestanden und kam mir mit ausgestreckten Armen vorsichtig entgegen. »Mein Kind, es tut mir so leid. Wenn ich das gewusst hätte! Ich war mir sicher, du wüsstest Bescheid.«
Auch Adam erhob sich. Er achtete nicht auf die alte Frau, sondern behielt mich im Auge. Ich konnte es ihm nicht verdenken, denn ich verspürte das dringende Bedürfnis, um mich zu schlagen. »Sie sagt die Wahrheit«, erklärte er schlicht.
Blitzschnell stürzte ich mich auf ihn. Mein Angriff traf ihn unerwartet, was mein Vorteil war. Es gelang mir, ihn gegen die Wand zu schleudern, ehe er reagieren konnte. Ich konnte nicht mehr klar denken. Der Wunsch, jemandem wehzutun, ließ mich alle Vernunft vergessen.
»Sabina! Hör auf!« Briallens Rufe gingen in einer Kakophonie aus Brüll- und Grunzlauten unter. Bei dem Kampf warf ich einen Tisch um, wodurch ein Korb mit Kräutern zu Boden ging. Die getrockneten Pflanzen verteilten sich im ganzen Zimmer. Ich trommelte wie eine Wahnsinnige mit den Fäusten auf Adam ein und verfluchte ihn hasserfüllt, bis ich merkte, dass er sich gar nicht verteidigte. Er wehrte nur meine Hiebe ab.
»Los! Kämpf mit mir!« Ich verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die unnatürlich laut in dem kleinen Zimmer widerhallte.
»Nein.« Adam schaffte es, eine Hand frei zu bekommen, mit der er nun eine Bewegung machte und dabei leise etwas murmelte. Ich stürzte mich erneut auf ihn, doch diesmal
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