Rote Jägerin - Wells, J: Rote Jägerin - Red-Headed Stepchild
musste lächeln. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Jetzt hätte ich allerdings auch eine Frage. Warum hatten die Sterblichen keine Angst, als Sie von der Blondine getrunken haben?«
Clovis nickte bedächtig und lehnte sich vor. »Unsere sterblichen Gemeindemitglieder werden sehr gründlich darauf vorbereitet, mit wem sie es zu tun haben, ehe sie den Tempel zum ersten Mal betreten.«
»Aber befürchten Sie denn nicht, dass einer von ihnen die Polizei rufen könnte?«
»Nein, ganz und gar nicht. Die Frau hat vorher ein Formular unterschrieben, auf dem sie ihre Zustimmung gab. Keine Sorge, es ist alles genau geregelt und völlig legal, was wir hier machen.«
»Aber ist es …«, begann ich, wurde aber von Clovis unterbrochen.
»Sabina, darf ich offen mit Ihnen sprechen?«, wollte er wissen. »Sie scheinen eine Frau zu sein, die Offenheit schätzt.« Er sah mich fragend an.
»Natürlich«, erwiderte ich und versuchte dabei so gelassen zu wirken wie möglich. Innerlich erzitterte ich jedoch, weil ich kurz befürchtete, er könnte mein Spiel doch durchschaut haben.
»Wie ich bereits sagte, ist Ihr Talent als Killerin weithin bekannt. Außerdem ist Ihr Wissen über die Dominae von unschätzbarem Vorteil. Ich brauche Sie auf meiner Seite. Ich will Sie in meinem Team.«
Ich zögerte, da ich nicht so recht wusste, wie ich reagieren
sollte. Am besten schien mir eine Mischung aus Interesse und Unsicherheit. »Das schmeichelt mir natürlich, Clovis. Aber Sie verstehen sicher, dass ich erst einmal mehr über Ihre Absichten und Pläne erfahren muss, ehe ich Ihnen zu- oder absagen kann.«
Er stand auf. »Natürlich. Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen. Einverstanden?«
Ich erhob mich, und er bedeutete mir, dass ich vorangehen sollte. Frank öffnete die Tür und zwinkerte mir anzüglich zu, als ich an ihm vorbeikam. Ich ignorierte ihn und konzentrierte mich stattdessen ganz auf Clovis, der Frank zum Glück wegschickte.
Clovis lief neben mir her, während wir den holzverkleideten Korridor entlanggingen. Ich wunderte mich, dass er sich mit mir allein so sicher fühlte, bis ich die Wachen bemerkte. Sie standen in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten des Gangs, die Augen nach vorne gerichtet, die Haltung so aufrecht und regungslos als seien sie Statuen.
Schon bald gelangten wir zu einer Doppeltür aus Glas. Die beiden Wachleute, die davor standen, traten zur Seite und öffneten. Clovis nickte ihnen dankend zu, was mich überraschte. Die meisten Anführer, die ich kannte, behandelten ihre Untergebenen eher wie Sklaven.
Wir betraten einen überdachten Gang, der um einen hübschen Innenhof führte. In der Mitte des Hofes befand sich ein Brunnen, auf den sternförmig Wege zuliefen.Der Brunnen selbst war geformt wie ein achteckiges Taufbecken, dessen Rand von einem breiten Band aus geheimnisvollen Zeichen umrundet war. Bei der Brunnenfigur handelte es sich um eine Frau, die zwei Fackeln in den Händen hielt. Unter ihren Füßen sprudelte leise Wasser hervor.
»Gefällt er Ihnen?«, fragte Clovis und wies auf den Brunnen. »Er ist aus Griechenland. Und die Statue stellt die Göttin Hekate dar.«
Ich drehte mich ruckartig zu ihm um und sah ihn verblüfft an.
»Überrascht?«
»Ein bisschen«, gab ich zu.
»Falls Sie sich entschließen, unserer Gruppe beizutreten, werden Sie bald merken, dass wir hier alle Kinder der Lilith schätzen. Die Feindschaft zwischen den Hekate und den Lilim hat schon viel zu lange gedauert. Es ist endlich an der Zeit, dass wir alle zusammenfinden, um die Große Mutter gemeinsam zu ehren.«
Ich schwieg. Schließlich konnte ich ihm kaum sagen, dass ich seine Philosophie für absoluten Humbug hielt. Stattdessen nickte ich gedankenverloren und tat so, als müsse ich über die Möglichkeiten nachdenken, die eine solche Einheit bieten würde.
Clovis führte mich an dem Brunnen vorbei zu einer weiteren schweren Doppeltür, die sich am anderen Ende des Hofes befand. »Wir kommen jetzt zur Schule«, erklärte er. In seiner Stimme schwang Stolz mit. »Hier erfahren unsere Mitglieder alles über unsere heilige Geschichte.«
»Sie meinen, hier kann man teuflisch gute Bibelstunden besuchen?«
Clovis blieb abrupt stehen und bedachte mich mit einem furchterregenden Blick, der eine weniger taffe Frau vermutlich auf der Stelle in Stein verwandelt hätte. »Sie sollten sich Ihren Spott für andere Orte aufheben, Sabina. Wir nehmen unseren Unterricht hier sehr ernst.
Weitere Kostenlose Bücher