Rote Lilien
sehen. Spielende Kinder, eine alte Frau, die in einem Sessel schlief, einen jungen Mann, der Blumen pflanzte. Doch sie gehörten weder in ihre Welt noch in die Welt, die sie suchte. Ihre Welt war voller Schatten. Mit nackten schmutzigen Füßen ging sie über die schmalen Wege und mitten durch die kahlen Winterbeete. Ihre Augen leuchteten wie die Strahlen des Mondes. Sie sah die Ställe vor sich aufragen. Dort würde sie finden, was sie brauchte, aber sie würde dort nicht allein sein.
Bedienstete, lüsterne Stallburschen, schmutzige Pferdeknechte. Sie tippte sich mit dem Finger auf die Lippen, als wolle sie sich zum Schweigen ermahnen, doch stattdessen brach schallendes Gelächter aus ihr heraus. Vielleicht sollte sie die Ställe anzünden, ein Feuer entfachen, dessen Flammen in den Himmel züngelten. Oh, wie die Pferde schreien und die Männer rennen würden. Ein Höllenfeuer in der eiskalten Nacht. Sie spürte, dass sie ein Feuer mit ihren Gedanken entfachen konnte, und drehte sich nach Harper House um. Sie konnte es mit der Kraft ihrer Gedanken niederbrennen. Die Räume würden vor Hitze bersten. Und er, der große Regienald Harper, und mit ihm alle, die sie betrogen hatten, würden in der Hölle umkommen, die sie geschaffen hatte. Aber nicht das Kind. Nein, nein, nicht das Kind. Sie presste beide Hände auf ihren Mund und verbannte den Gedanken daran, damit nicht noch ein Funke entstand. Ihr Sohn sollte nicht so enden. Er musste mit ihr kommen.
Bei ihr sein. Sie ging auf das Kutscherhaus zu. Ihr wirres nasses Haar hing ihr ins Gesicht, doch sie ging unbeirrt weiter. Keine Schlösser, dachte sie, als sie vor den breiten Türen stand. Wer würde es wagen, einen Fuß auf das Land der Harpers zu setzen? Sie.
Die Tür knarrte, als sie sie aufzog.
Selbst in der Dunkelheit konnte sie die auf Hochglanz polierten Kutschen glänzen sehen. Keine matten Räder für den Herrn. Große, Hitzende Kutschen, die ihn und die Hure, die seine Frau war, mitsamt seiner quäkenden Töchter dort hinfuhren, wo er hinwollte. Während die Mutter seines Sohnes, die Frau, die Leben geschenkt hatte, mit einem gestohlenen Pferdekarren vorlieb nehmen musste. Oh, er würde dafür bezahlen. Sie stand in der offenen Tür, während ihr Verstand sich im Kreis bewegte, in glühenden Bahnen aus Wut, Verwirrtheit und grenzenloser Liebe. Sie vergaß, wo sie war, wer sie war, warum. Doch dann fiel es ihr wieder ein. Konnte sie es wagen, eine Lampe anzuzünden? Sie musste. Sie konnte im Dunkeln nicht sehen. Noch nicht.
Ihre Finger zitterten vor Kälte, als sie eine Lampe entzündete, doch sie spürte es gar nicht. Die Hitze in ihr brannte immer noch und brachte sie zum Lächeln, als sie das aufgerollte Seil sah. Das würde genügen für das, was sie vorhatte. Sie ließ die Lampe brennen und die Tür offen, als sie wieder in den Regen hinausging.
Als Harper sich umdrehte und die Hand nach ihr ausstreckte, war sie nicht da. Schlaftrunken tastete er im Bett herum und erwartete, irgendwann auf warme Haut zu treffen. »Hayley? « Er murmelte ihren Namen und stützte sich auf den Ellbogen. Sein erster Gedanke war, dass sie nach Lily sah, aber aus dem Empfänger des Babyfons kam kein Geräusch. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihm klar, was er hörte. Der Regen war zu laut. Als er sich aufsetzte, sah er, dass die Balkontüren offen standen. Er rollte sich aus dem Bett und griff sich seine Jeans. »Hayley!« Er zog die Jeans an und rannte zur Tür. Doch draußen sah er nur Regen und Dunkelheit. Der Regen prasselte auf ihn herab, und das Herz in seiner Brust wurde zu einem Eisklumpen. Mit einem Fluch auf den Lippen stürzte er wieder hinein und rannte in Lilys Zimmer. Das Kind schlief friedlich. Seine Mutter war nicht da.
Er lief wieder ins Schlafzimmer und nahm den Empfänger des Babyfons. Dann steckte er ihn in die hintere Tasche seiner Jeans und ging nach draußen, um Hayley zu suchen. Ihren Namen rufend, stürzte er die Treppe hinunter. Das Kutscherhaus, dachte er. Er hatte immer geglaubt, dass Amelia dort hingegangen war. In der Nacht, in der er sie im Garten gesehen hatte, als er noch ein Kind gewesen war, war er sicher gewesen, dass sie dort hinwollte. Ihr Nachthemd war nass und schmutzig gewesen, erinnerte er sich im Laufen. Als wäre sie im Regen gewesen. Er kannte jede Biegung des Weges, sogar im Dunkeln. Als er sah, dass die Eingangstür des Kutscherhauses offen stand, atmete er erleichtert auf.
»Hayley!« Er machte das Licht an,
Weitere Kostenlose Bücher