Rote Lilien
wiederholte er. »Aber gut, mir ist klar, dass es - zumindest oberflächlich gesehen - ein Muster gibt.« Die Tür ging auf, und Roz kam mit einem Tablett herein. »Ich will euch nicht stören. Harper, du sorgst dafür, dass sie das hier trinkt.« Nachdem sie das Tablett am Fußende des Betts abgestellt hatte, ging sie um das Bett herum und küsste Hayley auf die Wange. »Ruh dich aus.« Harper streckte den Arm aus und nahm für einen Moment Roz' Hand. »Danke, Mutter.«
»Meldet euch, wenn ihr etwas braucht.«
»Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmerte«, sagte Hayley leise, als Roz die Tür hinter sich zuzog. »Niemanden, dem etwas an ihr lag.«
»Und an wem lag etwas? Um wen hat sie sich gekümmert? Für mich ist Besessenheit nicht gerade eine fürsorgliche Eigenschaft«, fügte er hinzu, bevor Hayley etwas sagen konnte. Er stand auf und goss den Tee ein. »Was sie ihr angetan haben, war schrecklich. Keine Frage. Aber weißt du was? In ihrer traurigen Geschichte gibt es keine Helden.«
»Das sollte es aber. Es sollte immer Helden geben. Aber du hast Recht.« Sie nahm die Tasse. »Sie war nicht heldenhaft - nicht einmal tragisch, wie Julia. Sie war nur traurig. Und verbittert.«
»Berechnend«, fügte er hinzu. »Und verrückt.«
»Das auch. Dich hätte sie nicht verstanden. Ich glaube, ich kenne sie inzwischen gut genug, um das sagen zu können. Sie hätte nicht verstanden, dass du warmherzig und ehrlich bist. Und das ist auch traurig.« Er ging zu den Balkontüren. Der Regenguss, den er sich gewünscht hatte, war gekommen, und er hätte stundenlang dort stehen und zusehen können, wie die Erde den Regen trank. »Sie ist immer traurig gewesen.« Er unterdrückte seinen Zorn auf Amelia und dachte an früher zurück. Und konnte plötzlich wieder Mitleid mit ihr haben. »Das ist mir schon als Kind aufgefallen, wenn sie in meinem Zimmer war und gesungen hat. Traurig und verloren. Trotzdem fühlte ich mich bei ihr sicher, wie bei jemandem, von-dem man weiß, dass er sich um einen sorgt. Sie hat sich um mich und meine Brüder gesorgt. Ich glaube, das muss man ihr zugestehen.«
»Sie tut es immer noch, das kann ich spüren. Sie bringt nur vieles durcheinander. Harper, ich kann mich nicht erinnern.«
Sie ließ die Tasse sinken und kämpfte gegen ihre Tränen an. »Nicht so wie bei den letzten Malen, als es passiert ist. Da habe ich sehen können - zumindest ein Teil von mir konnte sehen. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Aber dieses Mal war es anders. Ich konnte nicht sehen, jedenfalls nicht alles. Warum ist sie in den Ballsaal gegangen? Was hat sie dort gemacht?« Harper wollte ihr sagen, dass sie sich entspannen sollte, dass sie sich keine Gedanken mehr machen sollte. Aber er wusste, dass sie das jetzt nicht konnte. Er ging wieder zum Bett und setzte sich neben sie. »Du bist zum Kutscherhaus gegangen. Es muss so gewesen sein. Die Tür war offen, und an den Fußspuren konnte ich sehen, dass du in die Küche gegangen bist. Der Boden war nass.«
»In jener Nacht ist sie dort hingegangen, in der Nacht, in der sie gestorben ist. Sie muss in dieser Nacht gestorben sein. Alles andere ergibt keinen Sinn. Und wir haben sie gesehen, du und ich. Sie stand in ihrem nassen, schmutzigen Nachthemd draußen auf dem Balkon. Sie hatte ein Seil in der Hand.«
»Im Kutscherhaus hätte sie so etwas finden können.«
»Aber warum braucht sie ein Seil, um ihr Kind zu holen? Wollte sie das Kindermädchen fesseln?«
»Ich glaube nicht, dass sie das Seil dafür gebraucht hat.«
»Sie hatte auch eine Sichel in der Hand.« Hell und schimmernd, erinnerte sie sich. Scharf. »Vielleicht wollte sie damit alle töten, die versuchten, sie aufzuhalten. Aber das Seil? Was macht man mit einem Seil, wenn man niemanden fesseln will?« Ihre Augen weiteten sich, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Mit einem lauten Klirren setzte sie die Tasse ab. »O mein Gott. Sie wollte sich umbringen? Sie wollte sich erhängen, denkst du das? Aber warum? Und warum tut sie das ausgerechnet hier? Warum schleppt sie sich durch den Regen und erhängt sich im Ballsaal?«
»Das Kinderzimmer war damals noch im zweiten Stock.« Das bisschen Farbe, das in ihre Wangen zurückgekehrt war, verschwand. »Das Kinderzimmer.« Nein, dachte sie, als ein Bild vor ihren Augen entstand. Ihr würde nie wieder richtig warm werden.
An Hayleys freien Tagen verging die Zeit immer im Flug. Sie hatte so viel zu tun - einkaufen, Wäsche waschen, das
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