Rote Lilien
Luke war gerade acht geworden. »Ich habe nichts dagegen, und Lily würde es großen Spaß machen. Aber wenn ihr keine Lust mehr habt, bringt ihr sie wieder rein.«
»Und als Belohnung bekommt ihr nachher einen Eisbecher.« Davids Ankündigung wurde mit begeistertem Gebrüll aufgenommen. Nach einer Weile brachten die Jungs Lily wieder herein und stürzten sich auf ihre Eisbecher. Danach stand Hayley auf, um ihre Tochter nach oben zu tragen und ins Bett zu bringen. Stella schickte Gavin und Luke in das Wohnzimmer, in dem sie früher gewohnt hatten, damit die beiden fernsehen konnten. »Roz und Mitch möchten mit dir über Amelia reden«, meinte Stella.
»Ich weiß allerdings nicht, ob sie schon was zu dir gesagt haben.«
»Nein, aber das ist schon in Ordnung. Ich bin gleich wieder unten.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Dieses Mal nicht, danke. Ihr fallen schon die Augen zu.« Hayley freute sich, als aus dem Wohnzimmer das gedämpfte Wummern und Krachen irgendeiner Sciencefiction-Serie und die aufgeregten Kommentare der Jungs zu ihr nach oben drangen. Nach Stellas Heirat hatte sie diese Geräusche vermisst. Sie legte Lily ins Bett und überprüfte Babyfon und Nachtlicht. Als sie nach unten ging, ließ sie die Tür weit offen. Sie fand die Erwachsenen in der Bibliothek, wo ihre Gespräche über die Geisterfrau fast immer stattfanden.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, und der Raum war mit einem Licht erfüllt, das einen leichten rosa Schimmer hatte. Im Garten draußen standen die Sommerblüher in voller Blüte; die prächtigen Stängel des lavendelfarbenen Fingerhuts ragten zwischen den weißen Farbflecken des Fleißigen Lieschens empor, das durch die elegant herabhängenden Zweige pinkfarbener Fuchsien belebt wurde. Hayley konnte die hellgrünen Blätter des Betonienkrauts sehen, die Begonien mit ihrem zerbrechlichen Charme, die nach unten hängenden Blütenblätter des roten Sonnenhuts mit seinen stachligen braunen Köpfen. Ihr fiel ein, dass sie ihren Abendspaziergang mit Lily vergessen hatte, und sie nahm sich vor, ihre Tochter am nächsten Tag mit in den Garten zu nehmen. Aus reiner Gewohnheit ging sie zu dem Tisch, auf dem neben einer Vase blutroter Lilien der Empfänger des Babyfons stand. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er eingeschaltet war, wandte sie sich den anderen zu. »Da wir gerade alle hier sind«, begann Mitch, »dachte ich, das wäre eine gute Gelegenheit, um euch in Bezug auf meine Nachforschungen auf den neuesten Stand zu bringen.«
»Du willst mir doch nicht das Herz brechen und mir erzählen, dass du in euren Flitterwochen gearbeitet hast«, warf David ein. »Will ich nicht, aber wir haben es geschafft, ein wenig Zeit zu finden, um über verschiedene Theorien zu sprechen. Ich habe einige E-Mails von einem Kontakt in Boston bekommen. Es handelt sich dabei um die Nachfahrin der Haushälterin, die in Harper House gearbeitet hat, als Reginald und Beatrice hier gewohnt haben.«
»Hat sie was rausgefunden?« Harper hatte die Sessel verschmäht und sich bäuchlings auf den Boden gelegt. Jetzt richtete er sich auf und nahm eine sitzende Haltung ein.
»Ich habe ihr erzählt, was wir wissen, und auch, was wir in Beatrice' Tagebüchern über deinen Urgroßvater gefunden haben, Harper. Dass er nicht ihr Sohn war, sondern der Sohn von Reginalds Mätresse - von der wir annehmen, dass sie Amelia war. Bis jetzt hat sie allerdings keine Briefe oder Tagebücher von Mary Havers, der Haushälterin, entdeckt. Aber sie hat Fotos gefunden, die sie für uns kopieren lässt.« Hayley sah zur Galerie der Bibliothek, zu dem Tisch, auf dem Mitchs Bücher und Laptop lagen. »Was bringt uns das?«
»Je mehr Bildmaterial wir haben, desto besser«, erwiderte er. »Sie wird auch mit ihrer Großmutter reden. Es geht ihr zwar nicht sehr gut, aber hin und wieder hat sie ein paar lichte Momente. Die Großmutter behauptet, sie könne sich noch daran erinnern, wie ihre Mutter und eine Cousine, die zu der Zeit ebenfalls hier gearbeitet hat, über ihre Zeit in Harper House gesprochen haben. Meistens ging es dabei um große Gesellschaften und ihre Arbeit. Aber sie erinnert sich auch daran, wie ihre Cousine einmal den jungen Herrn - so wurde Reginald junior genannt - erwähnt und gemeint hat, der Storch habe ein Vermögen verdient, als er den Kleinen ablieferte. Und dass ihre Mutter daraufhin ihre Cousine zum Schweigen ermahnt und gesagt habe, das Kind könne ja schließlich nichts für das Blutgeld und
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