Rote Sonne über Darkover - 5
nicht so, wie er gehofft hatte. Die ganze Familie war versammelt und wartete auf ihn. Ihm kam zu Bewußtsein, daß sie alle anwesend waren, weil ein neues Mitglied offiziell willkommen geheißen werden sollte. Er hätte sich gar nicht erst vorzumachen brauchen, daß er dem entrinnen könne.
Es war ein warmer Tag, und der Tisch war nicht in der großen Halle gedeckt, sondern in einem kleineren Raum, in dem große Fenster geöffnet werden konnten, um die frische Luft und die Sonne hereinzulassen. Domna Mirhanas zarte Gestalt ertrank beinahe in einem großen Sessel neben dem Fenster. Die Sonnenstrahlen färbten ihr aschgraues Haar zu einem leuchtenden Rostbraun um, genau dem Ton, den es einst gehabt hatte. Ihr Blick war auf den freien violetten Himmel und die fernen Berge gerichtet.
Lord Dayvin, hellhäutig und gewichtig, saß am Kopfende des Tisches, an seiner Seite Domna China, eine hübsche Rothaarige, deren weites Gewand ihre Schwangerschaft verbergen sollte.
Zwischen Orina und der reizend in Weiß gekleideten Lyanella saß seine Frau. Sie trug ein einfaches braunes Kleid, das ihr bei ihrer Haarfarbe nicht besonders stand, und hielt die Augen gesenkt.
Als Cerdric eintrat, begann Dayvin zu grinsen. Dann kühlte sich sein Lächeln beim Anblick von Cerdrics verdunkeltem Gesicht etwas ab. »Cerdric! Wo hast du gesteckt? Der Tee wird kalt.«
»Guten Morgen«, antwortete er. »Entschuldigung.« Seine Augen grüßten alle bis auf sie.
Von dem Sessel kam Mirhanas sanfte Stimme: »Komm zu mir, Sohn. Du bist also endlich da.«
Schnell ging er hin und umarmte sie. Dann tauschte er Begrüßungen mit allen aus und nahm seinen Platz ein. Die Tischordnung erschien ihm seltsam - sie hatten seine Frau nicht an seine Seite gesetzt.
Und dann sah er Rafe, seinen jüngsten Bruder. Der Junge stopfte sich den Mund mit Butterbrot und Honig voll und warf scheue Blicke auf das junge Mädchen, seine neue Verwandte. Einmal trafen seine Augen die Cerdrics, und er lächelte. Wie still sie alle waren!
»Jetzt berichte uns von der Reise, Cerdric«, ließ sich von neuem Mirhana hören. »Calvana hat uns bereits einiges erzählt. Nach dem, was ich gehört habe, ist sie der Meinung, du hättest unterwegs eine Menge Zeit verschwendet.«
Wenigstens ist sie ehrlich, dachte er. Und dann sagte er mit einem Blick zu Calvana: »Meine Lady hätte es mir gleich sagen sollen. Ich wollte nur Rücksicht auf sie nehmen.«
Zum erstenmal ergriff Calvana das Wort. »Vai Dom, ich wußte nicht, was zu sagen das Richtige gewesen wäre.« Sie hob den Blick, und er sah tatsächlich Ehrlichkeit und dazu Unbeholfenheit. Auch bemerkte er, daß in den Gedanken, die von ihr ausgingen, weniger Zorn als früher war.
Sei freundlich … zu ihr. Mit diesem Gedanken berührte ihn seine Mutter.
»Dann hättest du das Falsche sagen sollen, meine Liebe«, erklärte Mirhana. »Ich sehe, ihr beiden habt während der Reise nicht viel miteinander gesprochen. Alles, sogar ein Streit, wäre dem Schweigen vorzuziehen gewesen.«
Calvana sah sie erstaunt an. »Meine Lady? Meint Ihr, ich hätte mit Eurem Sohn streiten sollen?«
Leises Lachen. »Streiten, Chiya? Ihr habt doch von Anfang an stumm miteinander in Streit gelegen! Kein Wort vom einen zum anderen! Ihr habt euch noch nicht einmal richtig kennengelernt!«
Langsam beugte sie sich in ihrem Sessel vor. »Ich muß schon sagen, Elviria hat sich keine Mühe gegeben, euch zu Freunden zu machen, kein bißchen.«
»Bewege dich nicht so, Mutter, es könnte dich krank machen!« rief Lyanella in plötzlicher Sorge aus. Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl.
»Ruhig, Tochter. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun - in versteinertem Zustand sterben? Wenn ich stillsitze, ängstigst du dich um mich, und wenn ich mich bewege, ängstigst du dich noch mehr. Was soll einer da machen?«
Rafe riß die Augen auf. »Oh, sprich nicht so, Mutter!« Er drehte sich um. »Und du, Nella, laß Mutter in Frieden! Du regst dich auf wie ein ungezähmter Verrin -Falke, bei Tag und bei Nacht, und du jagst uns allen Angst ein. Cerdric, du wirst es nicht glauben, aber als du weg warst, hat sie …«
»Was fehlt Euch, Domna Mirhana … ?« erklang plötzlich eine zaghafte Stimme. Alle wandten sich Calvana zu.
»Das Alter, nehme ich an, meine Tochter. Ich habe meine Zeit hier überzogen. Mutter Avarra allein weiß es.« Ihr Lächeln war sanft, freundlich. Calvana fühlte sich plötzlich an Elviria in ihren liebevollen Augenblicken erinnert. Ihr Herz
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