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Rote Spur

Rote Spur

Titel: Rote Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deon Meyer
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Sturzflut von Wörtern. Ein Strom, ein Fluss, der niemals aufhört zu fließen. Doch ich bin keine Schiffbrüchige, sondern ein Wortwassertier. Ich schwelge in den Wörtern meiner Gedanken, den Wörtern, die ich höre, den Wörtern, die ich lese und schreibe. Die Wörter sind in mir und um mich und durch mich, und es hört niemals auf. Ich treibe, schwimme und tauche darin, plansche und spritze, das ist meine Welt, mein natürlicher Lebensraum. Ich kann die Wörter sehen und hören, fühlen und schmecken.
    Das Wortwasser ist braun; tausende Tropfen hellbrauner Bindewörter, Zwischenwörter, Wörter, die anderen dienen. Manche Wörter glitzern wie silberne, springende Fische, funkelnde Bögen in der Sonne. Verben, voller Dynamik. Tätigkeitswörter. Lebenswörter. Andere wieder sind schwer und dunkel, Bodenwörter, rollende runde Steinwörter, die scheuern, aneinanderschlagen und erodieren. Das ist mal wieder typisch für mich, es drängt mich danach,
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ich bin süchtig, dieser Brief ist meine seelische Nahrung, meine Dosis für diesen Tag.
    Reden ist anders. Dann reißt mich der Strom oft fort, es gibt Strudel, Stromschnellen und Felsen unter Wasser; dann entschlüpfen die Wörter. Aber wenn ich schreibe, wenn es nur mich und den Fluss gibt und ich meine Augen unter der Oberfläche öffnen kann, kann ich jedes Wort sehen, suchen und auswählen.
    Deswegen schreibe ich. Oft und viel und schon seit langem. Weil ich nur dadurch die Kontrolle habe. Und das ist das Dilemma.
    Gedachte und geschriebene Wörter leben nicht. Sie können Geschichten erzählen, aber sie können die Geschichten nicht bestimmen. Sie können phantasieren (darin bin ich gut), aber Phantasien sind nur Konstrukte, Wortschatten, Fata Morganas, die sich in Nichts auflösen, wenn man ihnen zu nahe kommt. Es sind Flüsse, die austrocknen. Es sind Wadis.
    Ich habe keine Geschichte, Lukas. Ich habe angefangen, ein Buch zu schreiben, neulich, und meine ergiebigste Quelle waren meine letzten Erlebnisse – meine Flucht, mein neues Leben mit vierzig. Das ist die Summe meines Handelns, meine einzige Quelle eines seelischen Konflikts, der Höhepunkt meiner Existenz und der Tiefpunkt meines Geschichtsflusses. Vielleicht kannst Du mich besser verstehen, wenn ich Dir sage, dass ich, schon bevor ich Dich kannte, in Deine Geschichte verliebt war, die ich für einen Bericht ausarbeiten musste. Du bist alles, was ich wissen wollte, alles, worüber ich mein ganzes Leben lang phantasiert habe: ein Entdecker, ein Macher, ein Reisender, ein Abenteurer. Du bist Deinem Herzen, Deiner Liebe und Deinen Interessen gefolgt, hast Erfahrungen gesammelt, gelebt. Ich saß vor meinem Computer und dachte: Wie gerne ich Deine Geschichte schreiben würde. Wie wunderbar ein Buch über Dich wäre.
    Heute Morgen (mir kommt es vor, als es sei ein ganzes Leben lang her) saß ich am Strand bei Milnerton, und der Schmerz in meiner Hand hat mich gerettet – denn er hat mich an etwas erinnert, was ich getan habe. Und mit dieser Tat, auch wenn sie aus
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Wut und Scham geschah, bin ich einmal nicht geflohen, sondern habe die Initiative ergriffen.
    Heute Nachmittag habe ich mich wieder gewehrt – mit einem Anruf, um meine Tagebücher wiederzubekommen. Danach bin ich weggeschlichen, entschlüpft, habe mich getarnt und gründlich nachgedacht. Tätigkeitswörter. Mein Herz hat geklopft, meine Hände haben gezittert, ich bin mit einem Minibustaxi gefahren, habe in einem Vorstadtzug gesessen – beides zum ersten Mal in meinem Leben. Was wohl die Frauen von Belleville dazu sagen würden! Ich habe eine neue Welt entdeckt, ich habe Grenzen überschritten, ich habe (ein kleines bisschen) gefährlich gelebt und kann darüber schreiben, Lukas, eines Tages kann ich aus diesem kleinen Erfahrungsschatz schöpfen.
    Bestimmt kannst Du Dir inzwischen denken, was ich Dir sagen will: dass ich keine Lust habe, mich, wie Du es ausgedrückt hast, »von allem fernzuhalten«. Nein, ich will noch mehr haben, noch mehr leben, noch mehr erfahren.
    Ich weiß, was Du mit »in Deiner Lage« sagen wolltest und kann es Dir nicht verübeln. Du meintest damit, dass ich Mutter bin. Ich habe ein Kind, ich habe Verantwortung, ich muss (kann, soll, darf) nicht an diesem großen Abenteuer teilnehmen. Doch mit dieser Frage schlage ich mich schon monatelang herum und bin noch zu keinem Schluss gekommen. Siebzehn Jahre lang habe ich nur für meinen Sohn und für meinen Mann gelebt. Jetzt muss ich, auch Barend zuliebe, für mich

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