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Rote Spur

Rote Spur

Titel: Rote Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deon Meyer
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nahm den Stapel wortlos an sich, setzte die Beine ab und studierte zuerst das obere Dokument, ein weißes Blatt Papier mit Reihen von Ortsnamen und Entfernungen. Dann faltete sie die Karte auseinander und verglich sie mit der Übersicht. Ihr schlanker Zeigefinger fand den Weg in dem Spinnennetz von Straßen. Er führte über Vaalwater, Rustenburg und Ventersdorp … Dann blickte sie plötzlich zu ihm auf. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ihrer Stimme entnahm ich, dass sie wieder einmal die Stirn runzelte: »Das ist aber eine verdammt obskure Route. Warum fahren wir nicht über die N1?«
    Zum ersten Mal erkannte ich den Schattenriss einer alten Narbe an ihrem Hals. Sie zog sich von einer Stelle unterhalb ihres Ohres bis weit nach hinten in den Haaransatz hinein, ein feines Muster, wie der Umriss eines Vogelflügels, nur einen Hauch heller als ihre Haut.
    »Oom Diederik will, dass wir uns von den Hauptstraßen fernhalten. Und …«
    »Warum?«, fragte sie schroff und vorwurfsvoll.
    »Wegen der Zugbrücken«, antwortete Lourens ruhig und beherrscht.
    »Zugbrücken?«
    »Ja. Bei Langstrecken gibt immer die Durchschnittsgeschwindigkeit den Ausschlag, und nichts drückt die Durchschnittsgeschwindigkeit so sehr wie Fahrtunterbrechungen. Jede Zugbrücke bedeutet in etwa eine Stunde Aufenthalt, und zwischen |150| Musina und Kimberley gibt es fünf, wenn wir über die N1 und die N12 fahren würden. Außerdem ist diese Route fast hundert Kilometer kürzer.«
    Ich war stolz auf ihn, denn er ließ sich nicht einschüchtern – seine Stimme klang gleichmütig, und er buhlte nicht um ihre Gunst. Er nannte ihr lediglich die Fakten, höflich und freundlich. Beeindruckend für einen jungen Mann, der bis über beide Ohren verliebt war.
    Wieder fuhr sie mit dem Finger die Route entlang und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir werden über Bela-Bela fahren müssen. Ich brauche Licht, wenn ich die Tiere spritze.«
    Er sah sich die Stelle an, auf die sie zeigte. »In Ordnung«, sagte er, »da halte ich dann an.«
    Selbstzufrieden faltete sie die Karte zusammen. Diese Runde ging an sie. Sie legte die Karte auf das Armaturenbrett, in die Vertiefung hinter den Dosenhaltern, zog die Beine wieder an und ließ den Kopf auf die Knie sinken, um jede weitere Kommunikation zu unterbinden.
    Das würde eine interessante Fahrt werden.
    Zu den Grundvoraussetzungen meines Berufs gehörte es, in Menschen lesen zu können, die von mir geschützten Personen zu verstehen und Gefahrensituationen richtig einzuschätzen und verhindern zu können. Es war mir zu einer Gewohnheit geworden, einem Ritual, manchmal einem Spiel, andere zu beobachten und zu belauschen und die beiläufigen Informationen zu einem Profil zusammenzubringen, das ich ständig anpasste und ausbaute, um damit jedes Mal der Wahrheit einen Schritt näherzukommen. Das Problem war, dass zwanzig Jahre Berufserfahrung mich gelehrt hatten, dass wir eine trügerische Spezies waren. Wir konstruierten mit immenser Geschicklichkeit eine falsche Fassade, oft großangelegt und hochkompliziert, aus einer raffinierten Mischung von Wahrheit und Phantasie, um das Gute und Akzeptable zu betonen, das Böse hingegen zu verbergen.
    Die Kunst bestand darin, diese Fassade zu durchbrechen, um das zu entblößen, was dahintersteckte.
    |151| Es gab vieles, was Floh van Jaarsveld verriet: diese Attitüde gereizter Hochmütigkeit. Die bewusste Distanz, die sie zwischen sich und uns wahrte. Die übermäßige Verwendung gelehrter medizinischer Terminologie. Ihr Spitzname. Das Beharren darauf, dass sie jetzt Cornél hieße – zehn zu eins eine selbsterschaffene Abkürzung von Cornelia, die viel beeindruckender klang. Und dann die Wahl ihrer Kleidungsstücke, die ihre körperlichen Vorzüge mehr als nötig betonten. Denn sie war schön, trotz der kleinen Makel. Oder vielleicht gerade deswegen.
    Das Gros der Klienten von Body Armour waren attraktive Menschen, die in Wohlstand aufgewachsen waren. Privilegien nahmen sie meist wie selbstverständlich in Anspruch, und mit Krethi und Plethi hatten sie nichts gemein. Sie kultivierten eine Lässigkeit, die häufig die Schönheit eher verbarg.
    Ganz im Gegensatz zu Floh. Deswegen vermutete ich, dass sie aus der Mittelschicht stammte, aus einem Arbeiterhaushalt. Vater Minenkumpel oder Fabrikarbeiter, ungekünstelt, ein wenig ordinär, etwas grob.
    Armut musste nicht unbedingt eine negative Prägung mit sich bringen. Die Probleme begannen, wenn der Drang, daraus zu fliehen,

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