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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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er erst mit einer elastischen Spange den vorderen Mundabschnitt zurückschob und dann mit einer Überlappungstechnik, die inzwischen längst passé ist, die Hasenscharte schloß. Der kosmetische Erfolg dieser Operation war nicht gerade umwerfend.
    Der Chirurg hatte sich auch die Mühe gemacht, die Fachliteratur zu diesem Problem zu studieren und war aufgrund dessen zu der - übrigens korrekten - Entscheidung gelangt, mit der Schließung der Gaumenspalte des Kleinen zu warten, bis er fünf Jahre alt war. Eine Operation zu einem früheren Zeitpunkt hätte die Ausprägung und das Wachstums seines Gesichts erheblich beeinträchtigt.
    Ein Zahnarzt aus der Stadt erklärte sich bereit, einen Obturator anzufertigen, der den Gaumen des Kleinen verschloß, so daß beim Trinken keine Flüssigkeit in seine Nase geriet.
    Der Säugling wurde für eineinhalb Jahre in die Kinderkrippe von Springfield eingeliefert und kam dann ins Morgan-LeeWaisenhaus.
    Leiter dieses Waisenhauses war Reverend S. B. ›Buddy‹ Lomax. Bruder Buddy rief all die anderen Jungen und Mädchen zusammen und erklärte ihnen, daß Francis eine Hasenscharte hatte; sie sollten ihn aber auf keinen Fall Hasenscharte nennen.
    Bruder Buddy forderte seine Waisen dann auf, für ihn zu beten.
    In den Jahren nach seiner Geburt sollte Francis Dolarhydes Mutter lernen, für sich selbst zu sorgen. Als erstes fand Marian Dolarhyde eine Anstellung als Stenotypistin im Büro eines Wahlkampfleiters der Demokraten von St. Louis. Mit seiner Hilfe gelang es ihr auch, ihre Ehe mit dem verschwundenen Mr. Trevane annullieren zu lassen.
    Im Zuge dieser Annullierung wurde mit keinem Wort ein Kind erwähnt.
Zu ihrer Mutter hatte sie keinerlei Kontakt mehr. (»Ich habe dich doch nicht großgezogen, um mit so einem irischen Taugenichts durch die Weltgeschichte zu gondeln«, hatten Mrs. Dolarhydes Abschiedsworte gelautet, als Marian mit Trevane von zu Hause wegging.)
Einmal rief Marians Ex-Mann sie im Büro an. Nüchtern und scheinheilig versicherte er ihr, auf den rechten Pfad zurückgefunden zu haben, und wollte wissen, ob sie mit dem Kind, das kennenzulernen er ›nie die Freude gehabt hatte‹, einen neuen Anfang mit ihm versuchen wollte. Er klang ziemlich pleite. Marian erklärte ihm, das Kind wäre tot geboren worden, und hängte auf.
Eines Nachts tauchte er dann betrunken und mit seinem Koffer vor der Pension auf, in der Marian wohnte. Als sie ihm sagte, er solle verschwinden, erklärte er großspurig, es wäre ihre Schuld, daß ihre Ehe gescheitert und das Kind tot geboren worden wäre. Außerdem äußerte er Zweifel, ob das Kind überhaupt von ihm war.
In ihrer Wut warf Marian Dolarhyde nun Michael Trevane an den Kopf, welche Mißgeburt er mit ihr gezeugt hatte, und stellte ihm frei, sich seines Sohnes anzunehmen. Sie vergaß auch nicht, darauf hinzuweisen, daß es in der Familie Trevane zwei Fälle von Hasenscharten gab.
Sie setzte ihn auf die Straße und gab ihm zu verstehen, sie künftig in Frieden zu lassen. Das tat er auch. Doch Jahre später, betrunken und voller Verbitterung über Marians reichen neuen Mann und ihr schönes Leben, rief er Marians Mutter an.
Er erzählte Mrs. Dolarhyde von dem mißgebildeten Kind und behauptete, ihre schlechten Zähne wären der Beweis dafür, daß die Gaumenspalte durch die Dolarhydes vererbt worden wäre.
Eine Woche später kam Michael Trevane in Kansas City unter die Räder einer Trambahn und erlag den dabei erlittenen Verletzungen.
Nachdem Trevane Mrs. Dolarhyde von Marians verleugnetem Sohn erzählt hatte, blieb diese fast die ganze Nacht wach. Großgewachsen und hager, saß Großmutter Dolarhyde in ihrem Schaukelstuhl und starrte ins Feuer. Als die Nacht sich ihrem Ende zuneigte, begann sie langsam, aber energisch zu schaukeln. Aus dem Obergeschoß des großen Hauses rief eine brüchige Stimme nach ihr. Die Zimmerdecke über Großmutter Dolarhyde begann zu knarzen, als jemand ins Bad schlurfte.
Ein dumpfer Schlag - jemand war gestürzt - und die brüchige Stimme stieß einen Schmerzensschrei aus. Großmutter Dolarhyde wandte ihren Blick keine Sekunde von dem Feuer im Kamin ab. Sie schaukelte nur schneller hin und her, bis die Rufe nach einer Weile verstummten.
    Kurz vor Vollendung seines fünften Lebensjahres bekam Francis Dolarhyde zum erstenmal Besuch im Waisenheim.
    Er saß in den schweren Küchendünsten des Speisesaals, als ihn ein älterer Junge holte und in Bruder Buddys Büro brachte.
Die Dame, die ihn dort mit Bruder Buddy

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