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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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richtig auszusprechen. »Muhner.«
Und dann sah sie ihn im Spiegel. »Wenn du nach Ned suchst, er ist noch nicht zurück von...«
»Muhner.« Er trat in das herzlose Licht.
Marian hörte von unten die Stimme ihrer Mutter Tee verlangen. Ihre Augen weiteten sich, und sie saß vollkommen reglos vor dem Spiegel, ohne sich umzudrehen. Dann knipste sie die Spiegelbeleuchtung aus, so daß sie im Spiegel nicht mehr zu sehen war. In dem dunklen Raum gab sie dann ein kurzes tiefes Stöhnen von sich, das in einem Schluchzen endete. Es hätte ebenso gut ihr wie ihm gelten können.
Danach besuchte Großmutter sämtliche Wahlveranstaltungen mit Francis, um allen, die es hören wollten, zu erklären, wer er war und woher er kam. Sie ließ ihn zu allen ›Hallo‹ sagen, ohne daß sie dieses Wort vorher zu Hause geübt hätten.
Mr. Vogt fehlten achtzehnhundert Stimmen zu seiner Wahl.

26. K APITEL

    I n Großmutters Haus entpuppte sich Francis Dolarhydes neue Welt als ein Wald aus blau geäderten Beinen.
    Großmutter hatte seit drei Jahren ein Altersheim geführt, als
    Francis zu ihr kam. Seit dem Tod ihres Mannes im Jahr 1936 war sie nicht mehr aus den finanziellen Schwierigkeiten herausgekommen. Da sie zur Dame erzogen worden war, verfügte sie über keine vermarktbaren Fertigkeiten.
    Außer dem großen Haus und den Schulden ihres verstorbenen Gatten war ihr nichts geblieben. Zimmer unterzuvermieten, kam nicht in Frage, da das Haus dafür viel zu abgelegen war. Ihr drohte die Räumungsklage.
    Als sie dann in der Zeitung von Marians Heirat mit dem wohlhabenden Mr. Vogt las, schien Großmutter das wie ein Fingerzeig Gottes. Sie schrieb mehrere Briefe an Marian und bat sie um Hilfe, ohne je eine Antwort zu erhalten. Wenn sie im Haus der Vogts anrief, teilte ihr ein Dienstmädchen unweigerlich mit, Mrs. Vogt wäre außer Haus.
    Schließlich einigte Großmutter Dolarhyde sich zähneknirschend mit der Bezirksverwaltung und nahm bedürftige, alte Menschen bei sich auf. Für jeden von ihnen erhielt sie von der Bezirksverwaltung eine bestimmte Summe und außerdem gelegentliche Zahlungen von Angehörigen, welche die Behörde ausfindig machen konnte. Entsprechend bescheiden waren Großmutters Einkünfte, bis sie die ersten privaten Pflegefälle aus Mittelstandsfamilien bekam.
    Während dieser Zeit wurde ihr von seiten Marians keinerlei Unterstützung zuteil, obwohl dies durchaus in Marians Kräften gestanden hätte.
    Francis Dolarhyde spielte also auf dem Boden inmitten dieses Waldes aus blaugeäderten Beinen. Er spielte Auto mit Großmutters Ma-Jongg-Steinen, indem er sie zwischen den wie knorrige Wurzeln verknoteten Füßen hin und her schob.
    Mrs. Dolarhyde konnte ihre Schützlinge zwar dazu bringen, ihre sauberen Baumwollkittel anzubehalten, aber was die Schuhe betraf, vermochte sie sich nicht durchzusetzen.
    Die alten Leute saßen den ganzen Tag im Wohnzimmer und hörten Radio. Mrs. Dolarhyde hatte dort ein kleines Aquarium aufgestellt, damit sie auch etwas zum Schauen hatten. Ein privater Gönner hatte ihr außerdem einen Linoleumbelag für die Parkettböden gestiftet, um den unvermeidlichen Folgen altersbedingter Blasenschwäche besser begegnen zu können.
    Wie die Hühner auf der Stange saßen sie auf den Sofas und in ihren Rollstühlen und starrten mit matten Augen auf die Fische oder ins Nichts oder auf etwas, das sie vor vielen Jahren gesehen hatten. Nie würde Francis das Schlurfen bloßer Füße auf dem Linoleum vergessen, den Geruch von Kartoffeln und Kohl aus der Küche, den Geruch von alten Leuten, ähnlich dem von in der Sonne getrocknetem Einwickelpapier für Fleisch. Und dazu das nie verstummende Radio.
    Wenn es irgendwie ging, hielt Francis sich am liebsten in der Küche auf. Dort war seine einzige Freundin. Die Köchin Queen Mother Bailey stand von klein auf in den Diensten der Familie des verstorbenen Mr. Dolarhyde. Manchmal brachte sie Francis in ihrer Schürzentasche eine Pflaume mit, und sie nannte ihn ›ihren kleinen Possum, immer am Träumen‹. In der Küche fühlte er sich sicher und geborgen. Aber abends ging Queen Mother Bailey immer nach Hause...
Dezember 1943
Der fünfjährige Francis Dolarhyde lag in seinem Zimmer im
    Obergeschoß von Großmutters Haus im Bett. Es war stockdunkel, da wegen der befürchteten Luftangriffe der Japaner Verdunklungsvorhänge vorgezogen waren. ›Japaner‹ konnte Francis nicht sagen. Er mußte dringend auf die Toilette, aber er hatte im Dunkeln Angst, sein Bett zu verlassen.
    Er

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