Roter Drache
die Treppe zum Eingang hinaufstieg. Der Koffer, den sie bei sich hatte, sah besser aus als das weite Baumwollkleid, das sie trug, und das gleiche galt auch für die Handtasche, die sie gegen ihren geschwollenen Bauch preßte. Sie hatte genau sechzig Cents in ihrer Handtasche. Und in ihrem Bauch hatte sie Francis Dolarhyde.
An der Aufnahme gab sie ihren Namen mit Betty Johnson an, was nicht stimmte. Sie behauptete außerdem, ihr Mann wäre Musiker, und sie wüßte nicht, wo er sich gerade aufhielt; das allerdings entsprach der Wahrheit.
Sie wiesen sie in den Fürsorgetrakt der Entbindungsstation ein. Sie sah die Patientinnen neben sich nicht an, sondern starrte unverwandt auf die Sohlen der Frauen, die in den Betten auf der anderen Seite des Mittelgangs lagen.
Vier Stunden später wurde sie in den Kreißsaal gebracht, wo Francis Dolarhyde zur Welt kam. Der Geburtshelfer bemerkte, daß er eher aussah ›wie eine plattnasige Fledermaus als wie ein Baby‹ - eine weitere Wahrheit. Er wurde mit zweiseitigen Fissuren in Oberlippe und Gaumen geboren. Seine Nase war platt.
Der Oberarzt hielt es für besser, ihn seiner Mutter nicht gleich zu zeigen. Sie wollten erst abwarten, ob das Kind ohne künstliche Beatmung überleben würde. Sie legten es in ein Bett im hinteren Teil der Säuglingsstation, wo sein Gesicht vom Sichtfenster nicht zu erkennen war.
Der Kleine konnte zwar atmen, aber nicht trinken. Wegen seiner Gaumenspalte war er nicht in der Lage zu saugen.
Er schrie zwar am ersten Tag nicht ganz so unablässig wie ein heroinsüchtiges Baby, aber es war trotzdem schlimm genug.
Ein dünnes Rinnsal war bis zum Nachmittag des zweiten Tages alles, was er von sich gab.
Nach dem Schichtwechsel um fünfzehn Uhr fiel ein breiter Schatten auf sein Bettchen. Prince Easter Mize, zwei Zentner schwer, Putzfrau und Hilfskraft in der Entbindungsstation, blieb an seinem Bettchen stehen und betrachtete ihn mit über der Brust verschränkten Armen. In den sechsundzwanzig Jahren, die sie nun schon in der Säuglingsstation arbeitete, hatte sie etwa neununddreißigtausend Neugeborene gesehen. Dieser kleine Wurm würde überleben, wenn er nur Nahrung zu sich nahm.
Prince Easter hatte vom Herrn keine Anweisungen erhalten, diesen Kleinen sterben zu lassen. Sie nahm auch nicht an, daß ein entsprechender Bescheid an die Ärzte ergangen war. Sie nahm einen Gummistöpsel mit einem gekrümmten Glastrinkröhrchen aus ihrer Tasche und drückte ihn in die Öffnung einer Milchflasche. Sie konnte das Baby mit einer Hand halten und seinen Kopf abstützen. Dann hielt sie den Kleinen an ihre Brust, bis er ihren Herzschlag spürte, und steckte ihm schließlich das Trinkröhrchen in den Mund. Er trank etwa fünfzig Gramm und schlief dann ein.
»Mhm«, nickte Prince Easter, legte ihn in sein Bettchen zurück und ging dann ihren Pflichten nach, die darin bestanden, die Kübel mit den gebrauchten Windeln zu leeren.
Am vierten Tag wurde Marian Dolarhyde Trevane in ein Privatzimmer verlegt. In einem Emaillekrug auf dem Waschgestell waren von der vorherigen Benutzerin des Zimmers noch ein Strauß Rosenmalven übrig, die sich erstaunlich gut gehalten hatten.
Marian war ein hübsches Mädchen, zumal inzwischen ihr Gesicht nicht mehr so aufgedunsen war. Sie sah den Arzt aufmerksam an, als er ihr die Hand auf die Schulter legte und zu sprechen begann. Der Seifengeruch seiner Hände stieg in ihre Nase, und sie versank in die Betrachtung der Lachfältchen um seine Augen, als ihr plötzlich bewußt wurde, was er sagte. Darauf schloß sie die Augen und öffnete sie auch nicht, als sie das Baby hereinbrachten.
Schließlich schlug sie die Augen doch auf. Sie schlössen die Tür, als sie zu schreien begann. Sie gaben ihr eine Beruhigungsspritze.
Am fünften Tag verließ sie das Krankenhaus allein. Sie wußte nicht wohin. Nach Hause konnte sie nicht mehr; diesbezüglich hatte sich ihre Mutter unnachgiebig gezeigt.
Marian Dolarhyde Trevane zählte die Schritte zwischen den Telegraphenmasten. Nach jeweils drei Masten setzte sie sich auf ihren Koffer, um auszuruhen. Zumindest hatte sie den Koffer. In jeder Stadt gab es in der Nähe des Busbahnhofs eine Pfandleihe. Das wußte sie von den Reisen mit ihrem Mann.
1938 war Springfield nicht gerade eine Hochburg der plastischen Chirurgie. Man lief dort mit dem Gesicht herum, mit dem man das Licht der Welt erblickt hatte.
Ein Chirurg des City Hospital gab sich dennoch alle nur erdenkliche Mühe mit Francis Dolarhyde, indem
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