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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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erwartete, war groß und hager, Ende vierzig, das Gesicht unter einer dicken Puderschicht, das Haar zu einem strengen Dutt geknotet. Ihr Gesicht war auffallend weiß. Ihr graues Haar sowie ihre Augen und Zähne wiesen eine leicht gelbliche Tönung auf.
Was Francis ganz besonders an ihr auffiel und was er nie vergessen sollte - sie lächelte jedesmal voller Zufriedenheit, wenn sie sein Gesicht sah. So etwas war ihm bis dahin noch nie passiert. Und er sollte auch niemanden mehr kennenlernen, der ähnlich auf seinen Anblick reagierte.
»Das ist deine Großmutter«, erklärte ihm Bruder Buddy.
»Hallo«, begrüßte ihn die Frau.
Bruder Buddy wischte sich mit seiner langen Hand über den Mund. »Sag schön ›Hallo‹. Los, mach schon.«
Francis hatte gelernt, ein paar Worte zu sagen, indem er mit seiner Oberlippe seine Nasenlöcher verschloß. ›Hallo‹ zu sagen, hatte er allerdings noch nicht sehr häufig Gelegenheit gehabt. »Lhho«, war alles, was er herausbrachte. Doch Großmutter schien nur um so entzückter. »Kannst du auch ›Großmutter‹ sagen?«
»Versuch schön, ›Großmutter‹ zu sagen«, forderte ihn Bruder Buddy auf.
Doch der Verschlußlaut G ließ Francis rasch kapitulieren, so daß er in Tränen ausbrach.
Eine Wespe summte durch den Raum und stieß mehrmals gegen die Decke.
»Das macht nichts«, tröstete ihn die Großmutter. »Dafür kannst du doch sicher deinen Namen sagen. Bestimmt kann ein so großer Junge wie du seinen Namen sagen. Komm, sag ihn mir.«
Der Junge strahlte. Das hatten ihm die größeren Jungen beigebracht. Er war begierig, Großmutter zu zeigen, was er konnte. Er strengte sich mächtig an. »Fotzenfresse«, stieß er mühsam hervor.
    Drei Tage später kam Großmutter Dolarhyde ein zweites Mal ins Waisenhaus und nahm Francis mit nach Hause. Sie begann unverzüglich, ihm Sprechunterricht zu erteilen. Dabei konzentrierten sie sich vorerst auf ein einziges Wort: ›Mutter‹.
    Zwei Jahre nach der Annullierung ihrer Ehe hatte Marian Dolarhyde Howard Vogt, einen erfolgreichen Anwalt mit guten Beziehungen zu den Demokraten in St. Louis und Kansas City, kennengelernt und geheiratet.
    Vogt war Witwer mit drei kleinen Kindern und ein leutseliger, ehrgeiziger Mann, der fünfzehn Jahre älter war als Marian Dolarhyde. Er haßte nichts auf der Welt, außer dem St. Louis Post-Dispatch, der ihm anläßlich des Wahlbetrugskandals von 1936 am Zeug geflickt hatte und 1940 den Versuch der Demokraten zunichte machte, das Amt des Gouverneurs zu erobern.
    1943 war Vogts Stern wieder im Aufsteigen begriffen. Er wurde als Kandidat für die gesetzgebende Versammlung aufgestellt und war außerdem als möglicher Delegierter für den bevorstehenden Verfassungskongreß im Gespräch.
    Marian Vogt war eine treusorgende, attraktive Ehefrau, wofür ihr ihr Mann ein schönes Haus in der Olive Street kaufte, das den passenden Rahmen für zahlreiche gesellschaftliche Empfänge bot.
    Francis Dolarhyde hatte gerade eine Woche bei seiner Großmutter gewohnt, als sie mit ihm nach St. Louis fuhr.
Großmutter hatte das Haus ihrer Tochter nie zuvor betreten. Entsprechend kannte sie auch die Bedienstete nicht, die ihr öffnete.
»Ich bin Mrs. Dolarhyde«, stellte sie sich vor und drängte sich an dem Mädchen vorbei ins Haus. An ihrem Rücken stand ihr Unterrock mindestens fünf Zentimeter vor. Sie führte Francis in ein geräumiges Wohnzimmer, wo im Kamin ein wärmendes Feuer brannte.
»Wer ist es, Viola?« ertönte von oben eine Frauenstimme.
Großmutter legte ihre Hand vor Francis’ Gesicht. Er konnte den kalten Lederhandschuh riechen. Und dann flüsterte sie ihm zu: »Schau nach Mutter, Francis. Schau nach Mutter. Lauf!«
Er wich vor ihr zurück, schien unter ihrem Blick zusammenzuschrumpfen .
»Schau nach Mutter. Los, lauf jetzt!« Sie packte ihn an den Schultern und führte ihn auf die Treppe zu. Francis stapfte die Stufen hinauf und drehte sich auf dem Absatz nach seiner Großmutter um. Sie deutete mit ihrem Kinn nach oben.
Und weiter stieg Francis die Treppe hinauf, bis er den breiten Flur erreichte und vor der offenen Schlafzimmertür stehen blieb.
Mutter saß an ihrem Schminktisch und begutachtete in einem von zahlreichen Glühbirnen eingefaßten Spiegel ihr Makeup. Sie machte sich für eine Wahlveranstaltung schön; zuviel Rouge war deshalb nicht angebracht. Sie hatte der Tür den Rücken zugekehrt.
»Muhner«, stieß Francis hervor, wie Großmutter ihm beigebracht hatte. Er gab sich große Mühe, das Wort

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