Roter Drache
als jetzt schon. Am Telefon spielt die Entfernung doch letztlich keine Rolle. Willy läßt dich grüßen.«
»Grüß ihn auch schön von mir.«
»Paß gut auf dich auf, Liebling.«
Sie hatte ihn nie zuvor Liebling genannt. Er kümmerte sich jedoch nicht weiter darum. Er kümmerte sich überhaupt nicht um neue Namen - Liebling, Roter Drache.
Der diensthabende Nachtschichtbeamte in Washington erklärte sich sofort bereit, alles Nötige für Mollys Abreise in die Wege zu leiten. Graham preßte sein Gesicht gegen die kühle Fensterscheibe und beobachtete, wie der Regen den schwachen Verkehr unter ihm peitschte und das Grau der Straße in unregelmäßigen Abständen unter den grellen Blitzen aufleuchtete. Sein Gesicht hinterließ Abdrücke von Stirn, Nasenspitze, Lippen und Kinn auf der Scheibe.
Molly war weg.
Der Tag war vorbei, und er hatte nur noch die Nacht vor sich
- und eine lippenlose Stimme, die ihm Vorhaltungen machte.
Lounds’ Freundin hatte gehalten, was von seiner Hand noch übrig war, bis es mit ihm zu Ende gegangen war.
»Hallo, hier spricht Valerie Leeds. Leider kann ich im Augenblick nicht ans Telefon kommen...«
»Mir tut es auch leid«, murmelte Graham düster.
Dann schenkte er sich erneut sein Glas voll und setzte sich damit an den Tisch am Fenster, um auf den leeren Stuhl gegenüber von ihm zu stieren. Er starrte so lange auf diese Stelle, bis sie die Umrisse eines Mannes annahm, die von dunklen, flimmernden Partikeln ausgefüllt waren - eine Erscheinung wie ein Schatten auf in der Luft schwebendem Staub. Er versuchte, die schemenhafte Gestalt sich verdichten und die Züge eines Gesichts herausbilden zu lassen. Der Schemen rührte sich nicht und hatte kein Gesicht; aber es starrte ihn, obzwar gesichtslos, mit spürbarem Interesse an.
»Ich weiß, es ist verdammt hart.« Graham war inzwischen so betrunken, daß er deutlich lallte. »Du mußt unbedingt versuchen, damit aufzuhören, bis wir dich gefunden haben. Und wenn du es dir schon nicht verkneifen kannst, verdammte Scheiße, dann reagier dich wenigstens an mir ab. Mir wäre das wenigstens egal. Ich würde mich danach sogar besser fühlen. Inzwischen haben sie sogar Mittel, die dir helfen könnten, damit aufzuhören. Und zwar nicht nur aufzuhören, sondern auch aufhören zu wollen. Hilf mir - nur ein bißchen. Molly ist weg, und der gute, alte Freddy ist tot. Jetzt sind nur noch wir beide übrig, Kamerad. Du und ich.« Graham beugte sich vor und streckte seine Hand aus, um die Erscheinung zu berühren. Doch im selben Augenblick war sie verschwunden.
Graham ließ seinen Kopf auf den Tisch niedersinken, seine Wange auf seinen Arm gestützt. Als wieder ein Blitz aufzuckte, konnte er die Abdrücke von Stirn, Nase, Lippen und Kinn an der beschlagenen Scheibe erkennen. Ein bruchstückhaftes Gesicht, durch das die Regentropfen über das Glas krochen. Ein Gesicht ohne Augen, aber voller Regen.
Graham hatte sich wirklich bemüht, den Drachen zu verstehen.
Zuweilen, in dem atmenden Schweigen in den Häusern der Opfer, hatten genau die Räume, durch die der Drache sich bewegt hatte, zu ihm zu sprechen versucht.
Manchmal fühlte Graham sich ihm sehr nahe. Er kannte dieses Gefühl von früheren ähnlichen Ermittlungen. Und auch diesmal war es plötzlich da gewesen - der höhnische Eindruck, daß er und der Drache zuweilen dieselben Dinge taten, daß es nicht wenige Parallelen in den alltäglichen Details ihrer beider Leben gab. Irgendwo war der Drache zur gleichen Zeit wie er am Essen oder Duschen oder Schlafen.
Graham versuchte angestrengt, ihn zu sehen. Er versuchte, ihn wahrzunehmen, hinter dem blendenden Blitzen von Objektträgern und Ampullen, zwischen den Zeilen der Polizeiberichte, versuchte, sein Gesicht zu erspähen, hinter den Jalousienschlitzen der Zeitungsartikel. Er gab sich alle nur erdenkliche Mühe.
Um jedoch den Drachen auch nur annähernd begreifen zu können, um das kalte Tropfen in seiner einsamen Dunkelheit hören, die Welt durch seinen blutroten Nebel sehen zu können, hätte Graham einerseits fähig sein müssen, Dinge sehen zu können, die unwiederbringlich seinem Blick entzogen waren, und er hätte in der Lage sein müssen, sich frei und ungehindert in die Vergangenheit zurückbewegen zu können....
25. K APITEL
S pringfield, Missouri, 14. Juni 1938.
Erschöpft und von heftigen Wehen geplagt, stieg Marian Dolarhyde Trevane vor dem City Hospital aus einem Taxi. Ein
heißer Wind peitschte Staub und Sand gegen ihre Fußgelenke, als sie
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