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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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Victorias Katze erhängt hatte. Einige der wenigen Eindrücke, die er behalten hatte, betrafen das Haus selbst, wie er es in winterlichem Dämmerlicht mit seinen warm erhellten Fenstern von der Straße aus gesehen hatte, wenn er auf dem Weg von der Potter-Gerard-Grundschule ins Heim daran vorbeigegangen war.
Er konnte sich an den Geruch der Vogtschen Bibliothek erinnern, ähnlich einem eben geöffneten Flügel; seine Mutter hatte ihn dort zu sich kommen lassen, um ihm seine Sachen fürs Heim zu geben. Nicht erinnern konnte er sich an die Gesichter in den Fenstern des Obergeschosses, als er das Haus verließ und über den vereisten Gehsteig davonging; die praktischen Geschenke hatte er haßerfüllt unter seinen Arm geklemmt. Er eilte heimwärts an einen Ort in seinem Kopf, der ganz anders war als St. Louis.
Im Alter von elf Jahren war seine Fantasie sehr rege und voll entwickelt, und wenn der Ansturm seiner Liebe zu heftig wurde, verschaffte er sich Erleichterung. Mit kühlem Blick für die Folgen, lauerte er heimlich allen möglichen Hunden und Katzen auf. Sie waren so zahm, daß es ganz einfach war. Die Behörden brachten die traurigen, kleinen Blutflecken, die in die gestampften Böden zahlreicher Garagen gesickert waren, nie mit ihm in Verbindung.
Mit 42 konnte er sich daran nicht mehr erinnern. Noch dachte er je an die anderen Bewohner des Hauses seiner Mutter zurück - an seine Mutter, seine Stiefschwestern oder seine Stiefbrüder.
Manchmal sah er sie im Schlaf, in den leuchtenden Fragmenten eines Fiebertraums; verändert und unnatürlich groß, Gesichter und Körper in bunten Papageienfarben, hatten sie sich in der Haltung von Gottesanbeterinnen um sein Bett versammelt. Wenn er sich dennoch hin und wieder, wenn auch selten, bewußt mit seiner Vergangenheit beschäftigte, standen ihm durchaus genügend positive Erinnerungen zu Gebote. Zum Beispiel an seinen Wehrdienst.
Als er mit 17 ertappt wurde, wie er durch das Fenster in das Haus einer alleinstehenden Frau einzudringen versuchte, ohne daß die dahinter stehende Absicht je an den Tag gelegt worden wäre, stellte man ihn vor die Wahl, sich entweder vor Gericht zu verantworten oder zum Militär zu gehen. Er entschied sich für die Army.
Nach der Grundausbildung absolvierte er eine Spezialausbildung für Filmentwicklungstechnik, worauf er nach San Antonio versetzt wurde, wo er im Brooke Army Hospital für die Herstellung von Lehrfilmen des medizinischen Corps zuständig war.
Die Chirurgen an dieser Klinik zeigten Interesse an Dolarhyde und beschlossen, bezüglich seines Gesichts etwas zu unternehmen.
Sie entnahmen ihm etwas Knorpelgewebe aus dem Ohr, um damit seiner Nase ein normales Aussehen zu verleihen, und operierten seine Oberlippe mit einer interessanten AbbeLappentechnik. Um letzterem Eingriff beizuwohnen, waren zahlreiche Ärzte angereist.
Die Chirurgen waren sehr stolz auf das Ergebnis. Dolarhyde wies jeden Spiegel von sich und sah aus dem Fenster.
Den Unterlagen der Filmbibliothek zufolge, entlieh Dolarhyde zahlreiche Filme, vor allem über schwere Verletzungen, und behielt sie über Nacht.
1958 meldete er sich wieder zum Militärdienst, um bei dieser Gelegenheit Hongkong für sich zu entdecken. In Seoul stationiert, wo er die Filme von den winzigen Aufklärungsflugzeugen entwickelte, die Ende der fünfziger Jahre jenseits des 38. Breitengrads spionierten, verbrachte er seinen Urlaub zweimal in Hongkong. Hongkong und Kowloon hatten 1959 für jeden Geschmack das Passende zu bieten.
1961 wurde Großmutter in fragwürdigem Thorazin-Frieden aus der Anstalt entlassen. Dolarhyde stellte einen Dringlichkeitsantrag auf frühzeitige Freistellung vom Militärdienst, der sowieso bereits zwei Monate später abgelaufen wäre. Seinem Antrag wurde stattgegeben, worauf er unverzüglich nach Hause zurückkehrte, um sich ihrer anzunehmen.
Auch für ihn sollte dies eine seltsam friedvolle Zeit werden. Seine neue Stellung bei Gateway erlaubte es Dolarhyde, eine Haushälterin anzustellen, die sich tagsüber um Großmutter kümmerte. An den Abenden saßen sie dann, ohne sich zu unterhalten, im Wohnzimmer. Das Ticken der alten Standuhr und ihr Stundenschlag waren die einzigen Geräusche, welche die Stille durchbrachen.
Einmal sah er auch seine Mutter wieder; das war anläßlich Großmutters Begräbnis im Jahr 1970. Er schaute mit seinen gelben Augen, die den ihren so auffallend glichen, einfach durch sie hindurch oder an ihr vorbei. Sie hätte eine Fremde sein können.
Sein

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