Roter Drache
sich auf das schmale Bett. Ned ließ sich neben ihr
nieder, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Füße auf der
Steppdecke.
»Keine Ponys mehr«, zischte Ned. »Kein Sommerhaus am
See mehr. Und weißt du warum? Los, antworte schon, du mieser, kleiner Knilch.«
»Vater ist in letzter Zeit immer häufiger krank und verdient
nicht mehr so viel«, schaltete sich Victoria ein. »Eines Tages wird
er gar nicht mehr ins Büro gehen können.«
»Und weißt du, warum er krank ist, du Hosenscheißer?« setzte
Ned nach. »Los, red schon. Und zwar deutlich, damit man dich
auch verstehen kann.«
»Großmutter hat gesagt, daß er ein Säufer ist. Hast du das
nun verstanden?«
»Er ist krank wegen deiner häßlichen Fresse«, konterte Ned. »Und deshalb haben ihn die Leute auch nicht gewählt«, fügte
Victoria hinzu.
»Haut ab hier«, setzte Francis sich zur Wehr. Und als er sich
umdrehte, um die Tür zu öffnen, trat Ned ihn in den Rücken.
Francis versuchte mit beiden Händen seine Niere zu erreichen,
was nur seinen Fingern zugute kommen sollte, als Ned ihn in
den Bauch trat.
»Ach, Ned«, stieß Victoria hervor. »Ach, Ned.«
Ned packte Francis an den Ohren und hielt sein Gesicht ganz
dicht vor den Spiegel über der Komode. »Deshalb ist er krank!«
Damit rammte Ned Francis’ Gesicht gegen den Spiegel. »Deshalb ist er krank!« Peng. »Deshalb ist er krank!« Peng. Der Spiegel
war mit Blut und Speichel verschmiert. Dann ließ Ned ihn los,
so daß er zu Boden sackte.
Victoria starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, die
Unterlippe zwischen ihre Zähne geklemmt. So ließen sie ihn
liegen. Sein Gesicht war naß von Blut und Speichel. Seine Augen tränten vor Schmerz. Aber er weinte nicht.
28. K APITEL
D ie ganze Nacht hindurch trommelte in Chicago der Re gen auf die Plane über Freddy Lounds’ offenem Grab. Donner zerfetzt Will Grahams pochenden Schädel, als er vom
Tisch zu einem Bett schwankt, unter dessen Kopfkissen Träume lauern.
Das alte Haus über St. Charles stemmt sich gegen den Wind und seufzt immer wieder langgezogen gegen das Prasseln des Regens und das Krachen des Donners an.
Die Stufen knarzen im Dunkel. Mr. Dolarhyde steigt sie nach unten, sein Kimono über die Trittkanten streifend, seine Augen noch weit von jüngstem Schlaf.
Sein Haar ist naß und ordentlich gekämmt. Er hat sich die Nägel gefeilt. Er bewegt sich langsam und geschmeidig, als trüge er seine Konzentration wie ein bis zum Rand gefülltes Gefäß vor sich her.
Zwei Filme neben seinem Projektor. Die anderen Spulen türmen sich zum Verbrennen im Abfallkorb.
Zwei sind noch übrig, auserwählt unter Dutzenden von Super-Acht-Filmen, die er im Betrieb kopiert und zur näheren Begutachtung mit nach Hause genommen hat.
Eine Schale mit Käse und Obst neben sich, macht Dolarhyde es sich in seinem verstellbaren Sessel bequem, um die zwei Filme anzusehen.
Der erste hat ein Wochenend-Picknick am Jahrestag des 4. Juli zum Inhalt. Eine nette Familie. Drei Kinder. Der stiernakkige Vater greift ungeniert mit seinen Wurstfingern in das Gurkenglas. Und die Mutter.
Den besten Eindruck von ihr erhält man während des Baseballspiels mit den Nachbarskindern. Sie ist nur etwa fünfzehn Sekunden zu sehen, wie sie, dem Werfer zugewandt, darauf wartet, loszurennen; die Beine weit gespreizt, um in beide Richtungen gleich schnell starten zu können, hat sie den Oberkörper weit vorgebeugt, wobei ihre Brüste unter dem Pullover sanft hin und her schaukeln. Eine ärgerliche Unterbrechung, als ein kleiner Junge zum Schlag ausholt. Dann wieder die Frau, zur Ausgangsposition zurückkehrend. Sie plaziert einen Fuß auf das aufblasbare Kissen, das die Stelle markiert, und bleibt mit seitlich ausgestellter. Hüfte stehen, während sich gleichzeitig der Oberschenkelmuskel ihres eingeknickten Beins anspannt.
Immer wieder sieht sich Dolarhyde die Einstellung auf die Frau an. Der Fuß auf dem Kissen, der Unterleib schwenkt zur Seite, und unter den abgeschnittenen Jeans spannt sich der Oberschenkelmuskel. Das letzte Bild läßt er stehen. Die Frau mit den Kindern. Sie sind müde und verdreckt. Sie legen sich die Arme um die Schultern, und ein Hund schwänzelt zwischen ihren Beinen herum.
Ein fürchterlicher Donnerschlag entlockt dem Kristall in Großmutters riesigem Geschirrschrank ein leises Klimpern. Dolarhyde nimmt eine Birne aus der Schale.
Der zweite Film ist sogar mit einem Titel versehen. Die Worte Das neue Haus sind in Pennys aufsein Stück Hemdenkarton ausgelegt;
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