Roter Drache
Sanitäter in weißem Kittel traf fünfundvierzig Minuten später der Arzt ein. Kurz darauf kam auch noch ein Kombi mit Marians Mädchen und fünf weiteren Hausangestellten vorgefahren. Als Francis von der Schule nach Hause kam, waren gerade Marian, der Doktor und der Sanitäter in Großmutters Zimmer. Francis konnte Großmutter schimpfen hören. Als sie schließlich in einem der Rollstühle für die alten Leute herausgeschoben wurde, war ihr Blick glasig, und an ihrem Arm war ein Stück Watte befestigt. Ohne ihr Gebiß sah ihr Gesicht fremd und eingefallen aus. Auch Marians Arm war verbunden; sie war gebissen worden.
Großmutter fuhr im Wagen des Doktors weg; sie saß zusammen mit dem Sanitäter auf dem Rücksitz. Francis sah ihr hinterher. Er wollte ihr schon zum Abschied nachwinken, ließ aber seine Hand wieder an seiner Seite hinabsinken.
Marians Säuberungstrupp schrubbte und lüftete das Haus gründlich durch, veranstaltete einen Großwaschtag und badete die vernachlässigten Alten. Marian war ihnen dabei behilflich und beaufsichtigte die Zubereitung einer improvisierten Mahlzeit.
Mit Francis sprach sie nur, um ihn nach bestimmten Dingen zu fragen.
Schließlich schickte sie ihre Leute fort und rief die zuständige Behörde an. Mrs. Dolarhyde hätte einen Herzinfarkt erlitten, erklärte sie dort.
Es war bereits dunkel, als ein paar Leute von der Wohlfahrt mit einem Schulbus angefahren kamen, um die alten Heiminsassen abzuholen. Francis dachte, sie würden auch ihn mitnehmen. Aber niemand kümmerte sich um ihn.
Schließlich blieben nur Marian und Francis im Haus zurück. Sie saß am Eßtisch, den Kopf zwischen ihren Händen. Francis ging nach draußen und kletterte auf den Holzapfelbaum.
Schließlich rief Marian nach ihm. Sie hatte einen kleinen Koffer mit seinen Sachen gepackt.
»Du kommst jetzt mit mir«, erklärte sie und schritt auf den Wagen zu. »Steig ein. Und leg deine Füße nicht auf den Sitz.«
Sie fuhren in dem Packard davon und ließen den leeren Rollstuhl auf dem Hof stehen.
Es kam zu keinem Skandal. Die Behörden bedauerten das Ganze, zumal Mrs. Dolarhyde alles in bester Ordnung gehalten hätte. Auf die Vogts fiel kein Makel.
Großmutter wurde in eine private Nervenheilanstalt eingeliefert. Es sollte vierzehn Jahre dauern, bis Francis wieder mit ihr vereint wurde.
»Francis, das sind deine Stiefschwestern und dein Stiefbruder«, sagte seine Mutter. Sie befanden sich in der Bibliothek der Vogts. Ned Vogt war zwölf, Victoria dreizehn und Margaret neun. Ned und Victoria sahen einander an. Margaret hielt den Blick zu Boden gesenkt.
Francis bekam ein Zimmer am Dienstbotenaufgang. Seit der verheerenden Wahlniederlage von 1944 leisteten sich die Vogts kein Mädchen mehr fürs Obergeschoß.
Francis kam in die Potter-Gerard-Grundschule, die vom Haus der Vogts zu Fuß zu erreichen war und weit von der Privatschule entfernt lag, welche die drei anderen Kinder besuchten.
Während der ersten Tage ignorierten die Vogtkinder Francis, so gut es ging. Doch am Ende der ersten Woche kamen Ned und Victoria den Dienstbotenaufgang hoch, um ihm einen Besuch abzustatten.
Francis hörte sie erst mehrere Minuten vor seiner Tür flüstern, bevor sich der Türknopf zu drehen begann. Als sie feststellen mußten, daß die Tür verriegelt war, klopften sie nicht. Ned sagte nur: »Mach die Tür auf.«
Francis öffnete. Sie würdigten ihn keines weiteren Wortes, während sie im Kleiderschrank seine Sachen durchwühlten. Ned Vogt zog die Schublade der kleinen Kommode heraus und entnahm ihr alle Gegenstände, die er darin fand, mit zwei weit von sich gespreizten Fingern - Geburtstagstaschentücher mit den Initialen F. D., ein Kapodaster für eine Gitarre, ein bunt schimmernder Käfer in einem Tablettenröhrchen, eine Ausgabe von Baseball Joe in the World Series, die einmal naß geworden war, und eine Karte mit Genesungswünschen und dem Zusatz: »Von deiner Klassenkameradin Sarah Hughes.«
»Was ist das?« verlangte Ned zu wissen.
»Ein Kapodaster.«
»Für was braucht man so was?«
»Für eine Gitarre.«
»Hast du eine Gitarre?«
»Nein.«
»Wozu hast du das Ding dann?« wollte nun Victoria wissen. »Es hat meinem Vater gehört.«
»Ich kann dich nicht verstehen. Was hast du gesagt? Sag ihm,
er soll’s noch mal sagen, Ned.«
»Er hat gesagt, es hat seinem Vater gehört.« Ned schneuzte in
eines der Taschentücher und warf es in die Schublade zurück. »Heute sind sie die Ponys holen gekommen«, sagte Victoria
und setzte
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