Roter Drache
Äußeres überraschte seine Mutter. Er war auffallend kräftig gebaut und hatte wie sie schönes Haar und einen gepflegten Schnurrbart, von dem sie annahm, daß es sich dabei um ein Stück transplantierter Kopfhaut handelte.
Sie rief ihn daraufhin einmal wöchentlich an. Doch er legte jedesmal wortlos wieder auf.
Neun Jahre lang lebte Dolarhyde nach Großmutters Tod unbehelligt vor sich hin, ohne auch seinerseits einen anderen Menschen zu behelligen. Seine Stirn war von keinerlei Sorgenfalten zerfurcht. Doch er wußte, daß er wartete. Worauf allerdings, wußte er nicht. Schließlich verriet ein scheinbar unbedeutender Vorfall, wie er jedem einmal widerfährt, dem ruhenden Samenkorn in seinem Schädel, daß der Zeitpunkt gekommen war: An einem Nordfenster stehend, um einen Film zu begutachten, wurde er sich plötzlich des Alterns seiner Hände bewußt. Es war, als wären seine Hände, die den Film hielten, plötzlich wie eine Erscheinung vor ihm aufgetaucht, und in dem klaren Licht des Nordfensters konnte er ganz deutlich erkennen, wie seine Haut über den Knochen und Sehnen erschlafft war und seine Hände von unzähligen, winzigen Rauten wie Eidechsenschuppen zerfurcht waren.
Und während er seine Hände nun in dem unbarmherzigen Licht betrachtete, drang plötzlich mit überwältigender Intensität der Geruch von Kohl und gekochten Kartoffeln in seine Nase. Obwohl es warm im Raum war, erschauderte er. An diesem Abend trainierte er härter als gewöhnlich.
An einer Wand von Dolarhydes Trainingsraum im Dachboden des Hauses war neben den Hanteln und der Bank ein wandhoher Spiegel angebracht. Es war der einzige Spiegel im ganzen Haus, in dem er sich unbekümmert bewundern konnte, da er zum Training immer eine Maske trug.
Er betrachtete sich sehr genau, während er seine Muskeln aufpumpte. Mit 40 hätte er problemlos an einem regionalen Bodybuilding-Wettbewerb teilnehmen können. Doch er war noch nicht mit sich zufrieden.
Während besagter Woche stieß er auch auf das Aquarell von Blake. Es packte ihn sofort.
Er sah es in einem großen Farbdruck in der Time, wo es zusammen mit einem Bericht über die große Blake-Retrospektive im Tate Museum in London abgebildet war. Das Brooklyn Museum hatte den Großen Roten Drachen und die mit der Sonne bekleidete Frau dem Londoner Museum als Leihgabe zur Verfügung gestellt.
Ein Kunstkritiker der Time äußerte sich dazu wie folgt: ›Wenige dämonische Darstellungen in der abendländischen Kunst strahlen eine dermaßen alptraumhafte Intensität sexueller Energie aus...‹ Um dies herauszufinden, brauchte Dolarhyde den Begleittext nicht zu lesen.
Tagelang trug er das Foto mit sich herum. Dann, eines Nachts, entschloß er sich, es in der Dunkelkammer abzufotografieren und zu vergrößern. Er war die ganze Zeit heftig aufgewühlt. Er heftete das Foto im Trainingsraum neben dem Spiegel an die Wand und starrte es während des Trainings unablässig an. Schlaf fand er in diesen Tagen erst, nachdem er sich an den Hanteln bis zur Erschöpfung verausgabt und sich dann beim Betrachten seiner medizinischen Lehrfilme auch sexuelle Erleichterung verschafft hatte.
Schon seit dem zarten Alter von neun Jahren wußte er, daß er im wesentlichen allein war und immer allein bleiben würde eine Erkenntnis, die sonst eher den Jahrgängen um die 40 eigen ist. Und er, nachdem er die 40 überschritten hatte, entwickelte nun die lebhafte und blühende Fantasie eines Kindes. Sie trug ihn einen Schritt über das Alleinsein hinaus.
In einem Lebensabschnitt, in dem andere Männer sich zum erstenmal ihrer Isolation bewußt werden, fand Dolarhyde eine Erklärung für die seine: Er war allein, weil er einzigartig war. Mit der Inbrunst der Bekehrung stellte er fest, daß er, wenn er sich nur bemühte, wenn er nur seinen wahren, lange genug unterdrückten Trieben folgte, indem er sie als die Inspirationen, die sie tatsächlich waren, pflegte, daß er dann zur Erfüllung seines Seins gelangen könnte.
Auf dem Aquarell ist das Gesicht des Drachens nicht zu erkennen, aber Dolarhyde gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung zu wissen, wie es aussah.
Wenn er sich, die Muskeln vom Training aufgepumpt, im Wohnzimmer die medizinischen Filme ansah, steckte er sich Großmutters Gebiß in den Mund. Wegen seines entstellten Zahnfleisches und Gaumens paßte es jedoch nicht annähernd, so daß er jedesmal nach kurzer Zeit einen Krampf im Kiefer bekam.
Daher begann er im stillen an seinen Kiefern zu arbeiten, indem er mit
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