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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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überfahren«, flüsterte sie.
Doch es war der Klang ihrer lebendigen Stimme, der ihm nun wirklich einen Schrecken einjagte, und er verspürte das unstillbare Verlangen, sich zu vergewissern, ob ihr Herz noch schlug. Und es schlug noch. Sie hielt seine Hand behutsam an ihrer Brust fest.
»Na so was, du hast wohl noch lange nicht genug, wie?«
Eine lebendige Frau. Wie außergewöhnlich. Von gewaltiger Kraft durchströmt, seiner eigenen oder der des Drachen, hob er sie problemlos von der Couch hoch. Sie wog rein gar nichts; sie war wesentlich leichter zu tragen, da ihr Körper nicht erschlafft war. Nicht nach oben. Auf keinen Fall nach oben. Schnell. Irgendwohin. Schnell. Großmutters Bett, die Steppdecke aus Satin anschmiegsam unter ihren Körper.
»Warte, ich zieh sie aus. Oh, jetzt ist sie zerrissen. Macht nichts. Komm jetzt. Oh, mein Gott, du Süßer, ist das schöööön. Komm bitte nicht auf mich rauf. Laß mich auf dich, laß mich machen.«
Zusammen mit Reba, seiner einzigen lebenden Frau, in dieser einen Seifenblase aus Zeit eingeschlossen, hatte er zum erstenmal das Gefühl, daß alles gut war: Es war sein Leben, das er freigab; sich selbst, jenseits aller Sterblichkeit, ergoß er in ihre gestirnte Dunkelheit, fort von diesem Schmerzensplaneten, indem er sich über harmonische Distanzen hinweg unsäglichem Frieden und dem Versprechen der Ruhe entgegenkatapultierte.
Neben ihr im Dunkel liegend, legte er seine Hand auf sie und drückte sie sanft zusammen, um den Weg zurück zu versiegeln. Und als sie schließlich eingeschlafen war, lauschte Dolarhyde, verdammter Mörder von elf Menschen, immer und immer wieder dem Pochen ihres Herzens.
Bilder. Sonderbare Perlen, die durch das geborgene Dunkel flogen. Eine Pistole, die er auf den Mond abgefeuert hatte. Ein riesiges Feuerwerk, das er in Hongkong gesehen und dessen Bezeichnung gelautet hatte: »Der Drache sät seine Perlen. ‹
Der Drache.
Er fühlte sich wie betäubt, zweigeteilt. Und die ganze lange Nacht hindurch lauschte er neben ihr ängstlich auf das Geräusch seiner eigenen Schritte, wie er in seinem Kimono die Treppe herunterkam.
Einmal wachte sie auf und tastete verschlafen über den Nachttisch, bis sie das Glas entdeckte. Doch klapperte nur Großmutters Gebiß darin, als sie es hochhob.
Dolarhyde brachte ihr Wasser. Sie schlang im Dunkeln ihren Arm um ihn. Als sie wieder eingeschlafen war, nahm er ihre Hand von seiner großen Tätowierung und legte sie auf sein Gesicht.
Bis zum Morgengrauen war auch er in tiefen Schlaf gesunken.
    Als Reba McClane gegen neun Uhr aufwachte, hörte sie seinen ruhigen Atem. Träge streckte sie sich in dem großen Bett. Er rührte sich nicht. Sie rief sich den Grundriß des Hauses ins Gedächtnis zurück, die Anordnung der verschiedenen Teppiche und Fußböden, die Richtung, aus der das Ticken der Uhr ertönte. Als sie sich anhand dieser Details orientiert hatte, stand sie leise auf und fand das Bad.
    Nachdem sie lange und ausgiebig geduscht hatte, schlief er immer noch. Ihre zerrissene Unterwäsche lag auf dem Boden. Sie ertastete sie mit den Füßen und stopfte sie in ihre Handtasche. Sie schlüpfte in ihr Baumwollkleid, griff nach ihrem Stock und ging nach draußen.
    Er hatte ihr erzählt, der Garten wäre groß und eben, von wild wuchernden Hecken eingegrenzt; dennoch bewegte sie sich zuerst mit äußerster Vorsicht.
    Die Sonne war warm, und es wehte eine angenehme kühlende Morgenbrise. Sie stand im Garten und ließ den Wind die Samen der Holundersträucher durch ihre Hände wehen. Die Brise drang bis in die geheimsten Spalten und Vertiefungen ihres Körpers vor, und sie fühlte sich dadurch nach der langen Dusche noch frischer. Sie hob dem Wind die Arme entgegen, so daß er kühlend unter ihre Brüste und Arme und zwischen ihre Beine strich. Bienen summten an ihr vorüber. Sie hatte keine Angst vor ihnen, und sie ließen sie in Frieden.
    Als Dolarhyde erwachte, überfiel ihn momentane Verwirrung, daß er sich nicht oben in seinem Zimmer befand. Seine gelblichen Augen weiteten sich, als ihm alles wieder einfiel. Ein eulenhaftes Herumdrehen seines Kopfes auf die andere Seite des Betts. Leer.
    Streifte sie etwa durch das Haus? Was mochte sie dabei entdecken? Oder war während der Nacht etwas passiert? Etwas, das es zu vertuschen gegolten hätte? Man würde ihn verdächtigen. Er würde möglicherweise fliehen müssen.
    Er schaute ins Bad, in die Küche. Nach unten in den Keller, wo sein anderer Rollstuhl stand. Ins

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