Roter Drache
und sicher vorgekommen. »Sie brauchen nicht extra aufzuräumen. Führen Sie mich einfach rein und sagen Sie mir, es wäre aufgeräumt.«
»Nein, warten Sie.«
Er trug die Tüte mit den Einkäufen ins Haus und brachte schnell seine obligatorische Inspektionstour hinter sich. In der Küche blieb er einen Augenblick mit vors Gesicht gehaltenen Händen stehen. Er war sich im unklaren, was er eigentlich tat. Er spürte Gefahr; doch sie ging nicht von der Frau aus. Er konnte nicht die Treppe hinauf schauen. Er mußte etwas tun, ohne zu wissen, wie. Er hätte sie nach Hause zurückbringen sollen.
Bevor er geworden war, was er nun war, hätte er unter keinen Umständen etwas dergleichen gewagt. Doch nun wurde ihm bewußt, daß er alles tun konnte. Alles. Einfach alles.
Er trat ins Freie in den Sonnenuntergang hinaus, in den langen, bläulichen Schatten des Kombi. Reba McClane stützte sich an seinen Schultern ab, bis ihre Füße den Boden berührten.
Sie spürte das vor ihr aufragende Haus, wurde sich seiner Höhe durch das Echo der zufallenden Tür des Kombi bewußt.
»Vier Schritte über den Rasen. Dann kommt eine Rampe«, erklärte er ihr.
Sie ergriff seinen Arm. Ein Schauder durchbebte ihn. Sauberer Schweiß in Baumwolle.
»Sie haben eine Rampe? Wofür?«
»Hier haben mal alte Leute gewohnt.«
»Aber jetzt nicht mehr.«
»Nein.«
»Fühlt sich kühl und sehr hoch an«, sagte sie im Salon. Museumsluft. Und war das nicht der schwache Duft von Räucherstäbchen? Irgendwo tickte eine Uhr. »Ein großes Haus, oder nicht? Wie viele Zimmer?«
»Vierzehn.«
»Und es ist alt. Die Einrichtung ist alt.« Sie streifte einen gefransten Lampenschirm und betastete ihn kurz mit den Fingern. Der scheue Mr. Dolarhyde. Es war ihr keineswegs entgangen, daß es ihn sehr erregt hatte, sie mit dem Tiger zu sehen; wie ein Pferd hatte seinen ganzen Körper ein heftiges Zittern durchbebt, als sie beim Verlassen des Operationsraums seinen Arm ergriffen hatte.
Eine äußerst elegante Geste, dieser Besuch im Zoo. Vielleicht auch eine sehr vielsagende, wenn sie sich dessen auch noch nicht sicher war.
»Einen Martini?«
»Lassen Sie mich mitkommen und selbst den Drink machen«, bat sie und schlüpfte aus ihren Schuhen. Vorsichtig goß sie Wermut in das Glas. Dann einen kräftigen Schuß Gin und zwei Oliven. Sie hatte sich rasch ein paar Orientierungspunkte im Haus gemerkt - die tickende Uhr, das Summen der Klimaanlage im Fenster. Auf dem Küchenboden gab es eine warme Stelle; auf sie war wohl den ganzen Nachmittag Sonnenlicht durch das Fenster gefallen.
Er führte sie zu seinem bequemen Sessel und nahm selbst auf der Couch Platz.
Die Luft war wie aufgeladen. Wie das Phosphoreszieren von Plankton im Meer zeichnete sie jede Bewegung nach. Während sie neben sich ein Beistelltischchen ertastete, auf dem sie ihr Glas abstellte, legte er eine Platte auf.
Dolarhyde schien der Raum mit einem Mal verändert. Sie war der erste freiwillige Besuch, den er je zu Hause empfangen hatte, und nun war der Raum in seinen und ihren Bereich aufgeteilt.
Die Musik, Debussy, erfüllte leise den in die Dämmerung eintauchenden Raum.
Er fragte sie über ihre Zeit in Denver, worauf sie ihm eher abwesend ein wenig erzählte, als wäre sie in Gedanken ganz woanders. Er beschrieb ihr das Haus und den großen, von einer Hecke umgebenen Garten. Es war nicht nötig, viel zu sprechen.
In die Stille hinein, während er die Platte umdrehte, meinte sie: »Dieser herrliche Tiger, das Haus - Sie stecken voller Überraschungen, D. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand Sie wirklich kennt.«
»Haben Sie sie denn gefragt?«
»Wen?«
»Irgend jemanden.«
»Nein.«
»Woher wissen Sie dann, daß niemand weiß, was in mir steckt?« Er mußte sich so darauf konzentrieren, den Satz ordentlich zu artikulieren, daß seine Frage in völlig neutralem Ton herauskam.
»Oh, neulich haben mich ein paar Frauen von Gateway zu Ihnen in den Kombi steigen sehen. Ich kann Ihnen sagen, die waren vielleicht neugierig. Mit einem Mal leistet auch mir jemand am Getränkeautomaten Gesellschaft.«
»Und was wollten sie von Ihnen wissen?«
»Ach, nur ein paar saftige Details, die sie gleich herumtratschen hätten können. Als sie jedoch merkten, daß diesbezüglich nichts zu holen war, haben sie sich ziemlich schnell wieder verdrückt. Sie haben nur mal ein wenig die Fühler ausgestreckt.«
»Und was haben sie gesagt?«
Sie hatte eigentlich beabsichtigt, die hemmungslose Neugier der Frauen auf sich selbst zu
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