Roter Drache
ES.«
Dolarhyde umklammerte die Hantel. Die Stange bog sich unter der gewaltigen Last, als er sie in Schulterhöhe hochstemmte. HOCH. Problemlos hob er sie über seinen Kopf. »LEBWOHL, FOTZENFRESSE«, stieß er, stolzer Drache, unter heftigem Zittern hervor.
38. K APITEL
A m Montagmorgen sollte es Francis Dolarhyde nicht zur Ar beit schaffen.
Er brach wie immer rechtzeitig von zu Hause auf. Sein Äußeres war korrekt wie eh und je, und er steuerte den Kombi sicher durch den Morgenverkehr. Als er auf der Brücke über den Missouri der Morgensonne entgegenfuhr, setzte er seine Sonnenbrille auf.
Seine Styropor-Kühltasche quietschte unbehaglich, wenn sie im Fahren hin und wieder gegen den Beifahrersitz stieß. Er beugte sich zu ihr hinüber und stellte sie auf den Boden. Dabei fiel ihm ein, daß er noch Trockeneis besorgen mußte und den Film.... Als er nun den Missouri-Kanal überquerte, bewegte sich das Wasser unter ihm hindurch. Während er die weißen Schaumkronen des dahinströmenden Flusses beobachtete, hatte er plötzlich den Eindruck, als stünde das Wasser still und als glitte die Brücke über den Strom. Damit befiel ihn ein seltsames, beängstigendes Gefühl der Orientierungslosigkeit. Unwillkürlich nahm er den Fuß vom Gaspedal. Der Kombi rollte auf der Überholspur langsam aus und blieb schließlich stehen. Hinter ihm staute sich der Verkehr. Immer mehr Hupen wurden laut. Doch er hörte nichts davon.
Er saß nur da, glitt ganz langsam in nördlicher Richtung über den stehenden Strom und starrte in die Morgensonne. Tränen sickerten unter seiner Sonnenbrille hervor und fielen heiß auf seine Unterarme. Jemand klopfte gegen das Seitenfenster. Ein Autofahrer, das Gesicht frühmorgendlich blaß und vom Schlaf verquollen, war aus seinem Wagen gestiegen. Der Mann brüllte etwas durch das Fenster.
Dolarhyde sah den tobenden Autofahrer an. Vom anderen Ende der Brücke näherten sich zuckende Blaulichter. Er wußte, daß er weiterfahren sollte. Also forderte er seinen Körper auf, aufs Gaspedal zu steigen, was er auch tat. Der Mann am Fenster sprang zurück, um eine Füße in Sicherheit zu bringen.
In der Nähe der Auffahrt zur U. S. 270 fuhr Dolarhyde auf den Parkplatz eines großen Motels, auf dem auch ein Schulbus stand. Gegen das Rückfenster war der Trichter einer Tuba gelehnt.
Dolarhyde fragte sich, ob er mit den jungen Leuten in den Bus steigen sollte.
Nein, das war es nicht. Er schaute sich nach dem Packard seiner Mutter um.
»Steig ein. Leg deine Füße nicht auf den Sitz«, sagte seine Mutter.
Aber das war es auch nicht.
Er befand sich auf dem Parkplatz eines Motels im Westen von St. Louis, und er wollte in der Lage sein zu wählen. Doch es ging nicht.
In sechs Tagen, falls er so lange warten konnte, würde er Reba McClane töten. Unvermutet stieß er durch seine Nase einen schrillen Laut aus.
Vielleicht ließ sich der Drache darauf ein, daß er sich erst der Shermans annahm und dann noch bis zum nächsten Vollmond wartete. Nein, das war ausgeschlossen.
Reba McClane wußte nichts über den Drachen. Sie dachte, sie hätte Francis Dolarhyde vor sich. Sie wollte ihren Körper auf Francis Dolarhyde setzen. Sie hatte Francis Dolarhyde in Großmutters Bett schlüpfen lassen.
»Es war einfach wundervoll, D.« hatte Reba McClane im Garten gesagt.
Vielleicht mochte sie Francis Dolarhyde. Welche verdammenswürdige Verirrung für eine Frau, solche Gefühle zu hegen. Ihm war klar, daß er sie deswegen hätte verabscheuen müssen, wenn es nicht mit einem so beglückenden Gefühl verbunden gewesen wäre.
Reba McClane war schuldig, Francis Dolarhyde zu mögen. Eindeutig schuldig. Wäre der Drache nicht gewesen, wäre nicht die aus seinem Werden erwachsende Stärke gewesen, er hätte sie nie mit in sein Haus nehmen können. Er wäre nicht imstande gewesen, mit ihr zu schlafen. Oder doch?
»O mein Gott, du Süßer, ist das schöööön.«
Ja, das hatte sie gesagt. Sie hatte ›Süßer‹ zu ihm gesagt.
Ein paar Frühstücksgäste kamen aus dem Motel und gingen an Dolarhydes Kombi vorüber. Ihre müßigen Blicke tippelten mit zahllosen winzigen Beinchen über ihn hinweg.
Er mußte nachdenken. Er konnte nicht nach Hause. Er nahm sich ein Zimmer, rief im Betrieb an und meldete sich krank.
Sein Zimmer war schlicht und ruhig. Den einzigen Wandschmuck bildeten schlechte Flußdampferdrucke. Nichts funkelte ihm drohend von den Wänden entgegen.
Dolarhyde legte sich aufs Bett. Die Decke war mit leuchtenden Flecken
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