Roter Drache
schlimm, so schlimm, daß er sich sogar übergeben mußte. Doch danach würde wieder eine Phase der Ruhe kommen. Geduldig wartete er darauf, und als sie eintrat, stürzte er ans Telefon und wählte eine Nummer in Brooklyn.
Eine Schulblaskapelle bestieg den Bus auf dem Parkplatz. Die Jugendlichen sahen Dolarhyde kommen. Er mußte zwischen ihnen hindurch, um zu seinem Kombi zu kommen.Ein dicker, rundgesichtiger Junge in Spielmannszuguniform legte die Stirn in Falten, blies seinen Brustkorb auf und beugte seinen Bizeps, kaum war Dolarhyde an ihm vorbeigeschossen. Zwei Mädchen kicherten. Gleichzeitig furzte die Tuba aus dem offenen Busfenster Dolarhyde hinterher, doch er hörte es ebensowenig wie das laute Gelächter hinter ihm.
Zwanzig Minuten später hielt er 300 Meter vor Großmutters Haus an der Einfahrt an.
Er wischte sich das Gesicht und atmete drei- oder viermal rief durch. In der linken Hand hielt er den Hausschlüssel, seine rechte krallte sich um das Lenkrad.
Ein hohes klagendes Geräusch drang durch seine Nase. Und noch einmal, lauter. Lauter, immer lauter.
Jetzt.
Kies spritzte unter den Hinterrädern davon, als der Kombi davonschoß und das Haus, in der Windschutzscheibe größer und größer werdend, näherzuckte. Schleudernd kam der Kombi vor dem Haus zum Stehen; Dolarhyde sprang heraus und rannte los.
Im Haus stürmte er, nicht nach links und rechts schauend, die Kellertreppe hinunter und machte sich, immer wieder nach seinem Schlüsselbund schauend, an der durch ein Vorhängeschloß gesicherten Truhe im Keller zu schaffen.
Der Truhenschlüssel war oben. Er ließ sich keine Zeit zum Nachdenken. Ein hoher Summton drang durch seine Nase, und er gab sich alle Mühe, durch seine Lautstärke jedes Denken auszulöschen und jegliche Stimmen zu übertönen, während er die Treppe hinauf stürmte.
Mittlerweile am Sekretär, in der Schublade nach dem Schlüssel wühlend, keinen Blick auf das Bild des Drachen am Fußende des Betts werfend.
»WAS TUST DU DA?«
Wo waren die Schlüssel? Wo waren nur die Schlüssel?
»WAS TUST DU DA? HALT. NOCH NIE HABE ICH EIN SO ABSTOSSENDES UND SCHMUTZIGES KIND WIE DICH GESEHEN. HALT.«
Seine wühlenden Hände erlahmten.
»SCHAU... SCHAU MICH AN.«
Er klammerte sich am Rand des Sekretärs fest, um sich nicht nach der Wand umzudrehen. Schmerzhaft verdrehte er die Augen, als sich sein Kopf gegen seinen Willen herumdrehte.
»WAS TUST DU DA?«
»Nichts.«
Das Telefon klingelte, Telefon klingelte, Telefon klingelte. Den Rücken dem Bild zugewandt, nahm er ab.
»Hallo, D., wie geht’s dir?« Reba McClanes Stimme.
Er räusperte sich. »Ganz gut.« Kaum ein Flüstern.
»Ich habe dich schon in der Firma anzurufen versucht. In deinem Büro hat man mir gesagt, du wärst krank. Was hast du denn? Du klingst ja fürchterlich.«
»Sprich mit mir.«
»Natürlich spreche ich mit dir. Weswegen glaubst du wohl, hätte ich sonst angerufen. Was hast du denn?«
»Grippe«, stieß er mühsam hervor.
»Warst du schon beim Arzt?... Hallo, bist du noch da? Ich habe gefragt, ob du schon beim Arzt warst?«
»Sprich bitte etwas lauter.« Er wühlte in der Schublade, ging dann zur nächsten über.
»Ist ein Defekt in der Leitung? D., du solltest jedenfalls mit Grippe nicht allein zu Hause herumliegen.«
»SAG IHR, SIE SOLL HEUTE ABEND VORBEIKOMMEN UND SICH UM DICH KÜMMERN.« Fast hätte es Dolarhyde noch geschafft, rechtzeitig seine Hand auf die Sprechmuschel zu legen.
»Du lieber Himmel, was war das denn eben? Hast du Besuch?«
»Nein, ich habe aus Versehen am Radio am falschen Knopf gedreht.«
»Wie sieht’s aus, D.? Soll ich dir jemanden rausschicken? Besonders begeistert klingst du jedenfalls nicht. Ich werde selbst vorbeikommen. Marcia wird mich in der Mittagspause rausfahren.«
»Nein.« Die Schlüssel lagen unter einem Gürtel in der Schublade. Endlich. Er zog sich mit dem Telefon auf den Flurhinaus zurück. »Es geht mir schon wieder besser. Ich melde mich demnächst bei dir.« Das /s/ brachte ihn um ein Haar zum Scheitern. Er stürzte die Treppe hinunter. Das Telefonkabel riß aus der Wand, und der Apparat polterte hinter ihm die Treppe hinunter.
Ein erboster Schrei. »KOMM SOFORT ZURÜCK, FOTZENFRESSE.«
Runter in den Keller. Neben dem Behälter mit Dynamit befand sich in der Truhe ein kleiner Koffer mit Bargeld, Kreditkarten und Führerscheinen, die auf verschiedene Namen ausgestellt waren, einer Pistole, einem Messer und einem Totschläger.
Er packte den Koffer und rannte damit die Treppe zum
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