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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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übersät. Alle paar Minuten mußte er aufstehen und urinieren. Erst fror er, dann brach ihm der Schweiß aus.
Eine Stunde verstrich. Er wollte Reba McClane dem Drachen nicht überlassen. Er dachte darüber nach, was der Drache ihm antun würde, falls er sich ihm widersetzte.
Starke Angst bricht in einzelnen Wellen herein, denen der Körper nicht sehr lange standzuhalten vermag.
Nur in der drückenden Ruhe zwischen den einzelnen Wellen konnte Dolarhyde einen klaren Gedanken fassen.
Wie würde er darum herumkommen, sie dem Drachen auszuliefern? Beharrlich drängte sich seinem Bewußtsein immer wieder ein Ausweg auf. Er stand auf.
Laut hallte im gekachelten Bad das Klicken des Lichtschalters wider. Dolarhyde betrachtete die Duschvorhangstange, ein massives, drei Zentimeter dickes Rohr, das an den beiden gegenüberliegenden Wänden des Bads befestigt war. Er nahm den Duschvorhang ab und hängte ihn über den Spiegel.
Er packte nun mit einer Hand die Stange und machte einen einarmigen Klimmzug; stabil genug war sie. Und das war auch sein Gürtel. Er konnte sich dazu zwingen, es zu tun. Davor hatte er keine Angst.
Er befestigte den Gürtel an der Stange. Das Ende mit der Schnalle verknotete zu einer Schlinge. Der dicke Gürtel schwang nicht hin und her; vielmehr hing die Schlinge steif und reglos herab.
Er setzte sich auf die Kloschüssel und sah dazu hoch. Springen konnte er nicht, aber er würde es trotzdem schaffen. Er würde seine Hände so lange unten behalten, bis er zu schwach war, seine Arme zu heben.
Aber wie konnte er Gewißheit haben, daß sein Tod auch den Drachen betraf, nachdem der Drache und er nun zwei waren? Vielleicht war das nicht der Fall. Wie konnte er Gewißheit haben, daß der Drache sie dann verschonen würde?
Es konnte Tage dauern, bevor sie seine Leiche fanden. Sie würde sich fragen, wo er steckte. Würde sie in der Zwischenzeit zu seinem Haus hinausfahren und es nach ihm abtasten? Würde sie dabei nach oben gehen und nach ihm tasten und dabei eine Überraschung erleben?
Der große, rote Drache würde sie die Treppe hinunterspeien.
Sollte er sie anrufen und warnen? Doch was hätte sie, selbst vorgewarnt, gegen ihn unternehmen können? Nichts. Sie konnte nur hoffen, daß der Tod möglichst rasch eintrat, daß er in seiner Raserei bald fest genug zubiß.
Im Obergeschoß von Dolarhydes Haus wartete der Drache in Bildern, die er mit eigenen Händen gerahmt hatte. Der Drache lauerte in zahllosen Kunstbänden und Zeitschriften, jedesmal von neuem geboren, sobald ein Fotograf... was tat?
Dolarhyde konnte ganz deutlich die Stimme des Drachen hören, wie er Reba verflucht hatte. Er würde sie erst verfluchen, bevor er zubiß. Er würde auch Dolarhyde verfluchen ihr sagen, daß er ein Nichts war. »Tu’s nicht. Tu’s nicht«, sagte Dolarhyde zu den hallenden Fliesen des Bads. Er lauschte seiner Stimme, der Stimme von Francis Dolarhyde, der Stimme, die Reba McClane problemlos verstehen konnte, seiner Stimme. Sein ganzes Leben lang hatte er sich ihrer geschämt, hatte mit ihr bittere und böse Dinge zu anderen gesagt.
Nie jedoch hatte er die Stimme von Francis Dolarhyde ihn verfluchen gehört.
»Tu’s nicht.«
Die Stimme, die er jetzt hörte, hatte ihn nie, kein einziges Mal verflucht. Sie hatte nur die Beschimpfungen des Drachen wiederholt. Allein die Erinnerung daran trieb ihm die Schamröte ins Gesicht.
Er fand, daß er als Mann eigentlich nie viel hergemacht hatte. Doch bei näherem Nachdenken wurde ihm bewußt, daß er sich eigentlich nie die Mühe gemacht hatte, das herauszufinden, und nun spürte er mit einem Mal seine Neugier geweckt.
Immerhin hielt er inzwischen ein Fähnchen des Triumphs in Händen, das ihm Reba McClane überreicht hatte. Und es flüsterte ihm ein, daß in einem Badezimmer zu sterben kein ruhmreiches Ende war. Doch was hätte er sonst tun können? Welche andere Möglichkeit hätte sich ihm geboten?
Es gab solch eine Möglichkeit, und als er sich ihrer bewußt wurde, stand für ihn gleichzeitig außer Frage, daß sie einer Blasphemie gleichgekommen wäre. Dennoch war es eine Möglichkeit.
Er schritt in seinem Zimmer auf und ab, seine Bahn nach wenigen Schritten durch ein Bett, eine Tür oder eine Wand gestoppt. Er übte im Gehen sprechen. Wenn er zwischen den einzelnen Sätzen tief durchatmete und sich Zeit ließ, konnte er sogar ziemlich deutlich artikulieren.
Zwischen den Anfällen von Angst konnte er sogar hervorragend sprechen. Doch jetzt überkam es ihn gerade wieder ganz

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