Roter Drache
Erdgeschoß hoch. Eilig stürzte er an der Treppe zum Obergeschoß vorbei, fest entschlossen, einem Kampf mit dem Drachen nicht auszuweichen, falls dieser nach unten kommen sollte. Draußen sprang er in den Kombi und fuhr, heftig schleudernd und den Kies der Zufahrt aufwirbelnd, davon.
Auf dem Highway verlangsamte er seine Fahrt und hielt schließlich sogar auf dem Seitenstreifen, um gelbe Galle hochzuwürgen. Ein Teil seiner Angst verflog.
Während er zum Flughafen fuhr, hielt er sich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen und blinkte beim Abbiegen immer rechtzeitig.
39. K APITEL
V or einem Wohnblock am Eastern Parkway, zwei Blocks vom Brooklyn Museum entfernt, stieg Dolarhyde aus dem Taxi und zahlte. Den Rest des Weges legte er zu Fuß zurück. Jogger, auf dem Weg zum Prospect Park, überholten ihn.
Von der Verkehrsinsel unweit der IRT-U-Bahnstation hatte er einen guten Blick auf das neoklassizistische Gebäude. Er hatte das Brooklyn Museum nie zuvor gesehen, auch wenn er den Museumskatalog sorgfältig studiert hatte - er hatte ihn sich zuschicken lassen, als er ›Brooklyn Museum‹ zum erstenmal in winzigen Lettern unter dem Foto vom Großen, roten Drachen und der mit der Sonne bekleideten Frau gesehen hatte.
Über den Eingang waren die Namen der großen Denker von Konfuzius bis Demosthenes in den Stein gemeißelt. Es war ein imposantes Bauwerk, umgeben von einem botanischen Garten. Mit Sicherheit eine würdige Heimstatt für den Drachen.
Eine U-Bahn rumpelte unter ihm vorbei und kitzelte ihn an den Sohlen. Abgestandene Luft puffte aus den Lüftungsschächten und vermengte sich mit dem Geruch des Färbemittels in seinem Schnurrbart.
In einer Stunde würde das Museum bereits geschlossen. Er überquerte die Straße und trat durch das mächtige Eingangsportal. An der Garderobe gab er seinen Koffer ab. »Ist die Garderobe morgen geöffnet?« erkundigte er sich.
»Das Museum ist morgen geschlossen«, erklärte die Garderobenfrau und wandte sich bereits wieder von ihm ab.
»Die Leute, die morgen ins Museum kommen - benutzen sie die Garderobe?«
»Nein, das Museum ist geschlossen; die Garderobe ist geschlossen.«
Sehr gut. »Danke.«
»Keine Ursache.«
Dolarhyde streifte zwischen den riesigen Glasvitrinen in der Ozeanischen Abteilung und im Saal der Amerikas im Erdgeschoß umher - Keramik aus den Anden, primitive Abschlagwaffen, Artefakte und beeindruckende Masken von den Indianern der Nordwestküste. Nun blieben ihm nur noch vierzig Minuten, bevor das Museum schloß. Die Zeit reichte nicht aus, um sich noch ausführlicher mit den Ausstellungsstücken im Erdgeschoß zu befassen. Er wußte, wo sich die Ausgänge und die Lifte befanden.
Er fuhr in den fünften Stock hoch. Er konnte spüren, daß er dem Drachen nun näher war, aber es bestand kein Grund zur Sorge; er würde nicht plötzlich um eine Ecke biegen und sich ihm unvermutet entgegenstellen.
Der Drache war der Öffentlichkeit nicht zugänglich; nach seiner Rückkehr aus der Londoner Täte Gallery war das empfindliche Aquarell in einem dunklen Schrank weggeschlossen worden.
Am Telefon hatte Dolarhyde in Erfahrung gebracht, daß Der große, rote Drache und die mit der Sonne bekleidete Frau nur selten ausgestellt wurde. Zu häufiger Lichteinfall hätte die Farben des fast 200 Jahre alten Aquarells verblassen lassen.
Dolarhyde blieb vor Albert Bierstadts Gemälde Ein Unwetter in den Rocky Mountains-Mr. Rosalie 1866 stehen. Von hier konnte er die verschlossene Tür zum Restaurationsatelier und zum Magazin sehen, wo sich das Aquarell befand. Keine Kopie, kein Foto, sondern der Drache selbst. Hierher würde er morgen zum verabredeten Termin kommen.
Er ging an den Wänden des fünften Stocks entlang, ohne auch nur eines der Gemälde zu beachten. Ihn interessierten nur die verschiedenen Zugänge. Er fand heraus, wo die Notausgänge und die Tür zum Treppenhaus sich befanden und prägte sich die Lage der Lifte ein.
Die Museumswärter waren höfliche Männer in mittleren Jahren mit dicken Gummisohlen unter ihren Schuhen, vom jahrelangen Herumstehen alle merklich in sich zusammengesunken. Keiner war bewaffnet, fiel Dolarhyde auf; nur ein einziger Wärter in der Eingangshalle trug eine Schußwaffe. Vielleicht handelte es sich bei ihm um einen den Dienst schwänzenden Polizisten.
Dann kam über die Lautsprecheranlage die Aufforderung, das Museum zu verlassen.
Wenig später stand Dolarhyde vor dem Eingang unter der allegorischen Figur von Brooklyn und beobachtete die
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