Roter Drache
leisen Summen des Anrufbeantworters.
»Hallo, hier spricht Valerie Leeds. Leider kann ich im Moment nicht ans Telefon kommen, aber wenn Sie bitte nach dem Pfeifton Ihren Namen und Ihre Nummer auf Band sprechen würden, werden wir Sie zurückrufen. Besten Dank.« Fast erwartete Graham, nach dem Pfeifton Crawfords Stimme zu hören, aber statt dessen ertönte nur das Freizeichen. Der Anrufer hatte aufgehängt.
Er hatte ihre Stimme gehört; nun wollte er sie auch sehen. Er ging ins Herrenzimmer hinunter. In seiner Hosentasche hatte er eine Spule Superachtfilm, die Charles Leeds gehörte. Drei Wochen vor seinem Tod hatte Leeds den Film in einen Drugstore zum Entwickeln gebracht; er sollte ihn nicht mehr abholen. Die Polizei stieß in Leeds Brieftasche auf den Abholschein und löste den entwickelten Film damit in der Drogerie aus. Die Kriminalbeamten sahen sich den Film zusammen mit einer Reihe gleichzeitig entwickelter Familienschnappschüsse an, ohne dabei auf irgend etwas Interessantes zu stoßen.
Graham wollte die Leeds so sehen, wie sie gewesen waren, als sie noch am Leben waren. Bei der Polizei hatten ihm die Beamten ihren Projektor angeboten. Doch Graham wollte sich den Film lieber im Haus ansehen. Widerwillig gaben sie ihm die Spule mit.
Graham holte Leinwand und Projektor aus dem Schrank im Herrenzimmer und setzte sich dann in Charles Leeds’ bequemen Ledersessel, nachdem er alles aufgebaut hatte. Er spürte unter seiner Handfläche etwas Klebriges auf der Armlehne Spuren der Schokoladenfinger eines Kindes. Als Graham an seiner Hand roch, strömte sie einen leicht süßlichen Geruch aus.
Es war ein netter, kleiner Familienfilm ohne Ton, eindeutig etwas einfallsreicher als die meisten ähnlichen Machwerke. Er begann mit einer Einstellung auf einen schlafenden Hund, einen weiß-grauen Bobtail. Das Geräusch der Filmkamera ließ den Hund kurz aufschauen, um jedoch gleich wieder weiterzuschlafen. Ein ruckartiger Schnitt auf den immer noch schlafenden Hund, bis dieser die Ohren spitzte, sich aufrichtete und zu bellen begann. Dann folgte ihm die Kamera, als er in die Küche rannte und erwartungsvoll vor der Tür stehenblieb. Er schüttelte sich leicht und wedelte aufgeregt mit seinem Stummelschwanz.
Graham biß sich auf die Unterlippe und wartete ebenfalls. Auf der Leinwand ging nun die Tür auf, und Mrs. Leeds betrat mit einer Tüte mit Lebensmitteln die Küche. Sie lachte überrascht auf und berührte mit ihrer freien Hand ihr leicht zerzaustes Haar. Ihre Lippen bewegten sich, als sie aus dem Bild ging, und dann kamen ihr mit kleineren Einkaufstüten die Kinder hinterher. Das Mädchen war sechs, die Jungen acht und zehn.
Der kleinere Junge, offensichtlich bereits an solche Filmauftritte gewöhnt, deutete auf seine Ohren und wackelte mit ihnen. Der Kamerastandpunkt war ziemlich hoch. Laut Obduktionsbefund war Leeds einszweiundneunzig groß gewesen.
Graham ging davon aus, daß dieser Teil des Films zu Beginn des Frühlings gedreht worden sein mußte. Die Kinder trugen Windjacken, und Mrs. Leeds wirkte relativ blaß. Im Leichenschauhaus hatte sie eine gesunde Bräune mit weißen Bikinistreifen gehabt.
Darauf folgten kurze Einstellungen von den Jungen, die im Keller Tischtennis spielten, und Susan, das Mädchen, packte in ihrem Zimmer, die Zunge vor angestrengter Konzentration herausgestreckt, ein Geschenk ein. Mit ihrer rosigen Kinderhand strich sie sich wie ihre Mutter beim Betreten der Küche eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
In der nächsten Szene hockte Susan wie ein Frosch in einem Schaumbad; sie trug eine viel zu große Badehaube. Der Aufnahmestandpunkt war diesmal wesentlich tiefer; außerdem haperte es mit der Entfernungseinstellung etwas - eindeutig das Werk eines der beiden Brüder. Die Szene endete damit, daß sie tonlos auf die Kamera einschrie und ihre sechsjährige Brust bedeckte, während ihr die Badehaube über die Augen rutschte.
Um seinen Söhnen in nichts nachzustehen, hatte auch Leeds seine Frau unter der Dusche überrascht. Der Duschvorhang bauschte und wölbte sich wie der Vorhang vor einer Schulaufführung. Mrs. Leeds’ Arm erschien hinter dem Duschvorhang. Sie hielt einen großen Badeschwamm in der Hand, und die Szene endete mit einer in Seifenschaum verschwimmenden Linse.
Der Film endete mit einer Aufnahme von Norman Vincent Peale, der gerade im Fernsehen sprach, und dann schwenkte die Kamera auf Charles Leeds, der in dem Sessel, in dem Graham gerade saß, friedlich vor sich hin
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