Roter Drache
wohl bewußt war. Früher, in der Schule, hatte er dieses Manko durch Schnelligkeit wettgemacht. Nur war er jetzt nicht mehr in der Schule.
Es gab durchaus noch etwas anderes, das er hätte tun können, und er hatte das schon seit Tagen gewußt. Er konnte damit warten, bis er in den letzten Tagen vor Vollmond aus Verzweiflung dazu getrieben wurde, oder er konnte jetzt damit beginnen, wo es vielleicht noch einen Sinn hatte.
Dazu wollte er jedoch erst die Meinung einer bestimmten Person hören. Nach den zufriedenen, durch nichts getrübten Jahren auf den Keys mußte er sich jedoch erst mühsam wieder in die hierfür erforderliche Gemütsverfassung bringen.
Die Gründe ratterten durch seinen Kopf wie das Klicken des Zahnrads unter einem Achterbahnwägelchen, das die Rampe zum Start hinaufgezogen wurde. Und oben angekommen, ohne zu wissen, daß er seine Hände gegen seinen Bauch preßte, stieß Graham laut hervor:
»Ich muß Lecter sehen.«
7. K APITEL
D r. Frederick Chilton, Chefarzt des Chesapeake State Hos pital für geistesgestörte Straftäter, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, um Will Graham die Hand zu schütteln. »Dr. Bloom hat mich gestern angerufen, Mr. Graham - oder
ist es Dr. Graham?«
»Nein, ich bin kein Doktor.«
»Es hat mich außerordentlich gefreut, wieder mal von Dr.
Bloom zu hören. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit. Nehmen Sie doch Platz.«
»Wir sind Ihnen für Ihre bereitwillige Mitarbeit zu größtem
Dank verpflichtet, Dr. Chilton.«
»Ach, wissen Sie, manchmal fühle ich mich eher wie Lecters
Sekretär als wie sein Arzt und Bewacher«, erklärte Chilton. »Allein der Umfang seiner Post ist ein Ärgernis. Bedauerlicherweise
kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es unter manchen Forschern geradezu als schick gilt, mit ihm zu
korrespondieren - ich habe seine Briefe in nicht nur einem psychologischen Institut gerahmt an der Wand gesehen -, und eine
Weile schien es, als wollte jeder Doktorand der Psychologie mit
ihm sprechen. Aber mit Ihnen und Dr. Bloom arbeite ich selbstverständlich nur zu gern zusammen.«
»Ich muß Dr. Lecter in möglichst großer Abgeschiedenheit
sehen«, erklärte Graham. »Außerdem könnte es sich als nötig
erweisen, daß ich ihn ein zweites Mal sehe oder mit ihm telefonieren muß.«
Chilton nickte. »Zuallererst: Dr. Lecter darf seine Zelle unter
keinen Umständen verlassen. Das ist der einzige Ort, an dem
wir ihn sich frei bewegen lassen können. Eine Wand seiner Zelle besteht aus einer doppelten Gitterwand, die sich auf den
Korridor öffnet. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen dort einen
Stuhl und ein paar Wandschirme aufstellen lassen. Des weiteren muß ich Sie darum bitten, ihm keinerlei Gegenstände zu reichen, mit Ausnahme von Papier, allerdings ohne
irgendwelche Arten von Klammern. Keine Spiralblöcke, Bleistifte oder Kugelschreiber. Er hat seine eigenen Filzstifte.« »Möglicherweise werde ich ihm einiges Material zeigen müssen, das ihn stimulieren könnte«, erklärte Graham. »Sie können ihm zeigen, was Sie wollen, solange es sich nur
auf weichem Papier befindet. Dokumente können Sie ihm durch
die Klappe für das Essen schieben. Reichen Sie ihm jedoch nichts
durch das Gitter, und nehmen Sie auch nichts an sich, das er
Ihnen möglicherweise durch das Gitter reicht. Er darf die Papiere nur durch die Schiebetür fürs Essen zurückgeben. Darauf
muß ich bestehen. Dr. Bloom und Mr. Crawford haben mir
versichert, daß Sie sich an die Vorschriften halten würden.« »Dessen können Sie gewiß sein«, nickte Graham und schickte sich an aufzustehen.
»Ich weiß, daß Sie es kaum erwarten können, die Sache in
Angriff zu nehmen, Mr. Graham. Trotzdem möchte ich Ihnen
erst noch etwas sagen. Es wird Sie bestimmt interessieren. Es mag vielleicht reichlich übertrieben scheinen, ausgerechnet Sie vor Lecter zu warnen. Er gibt sich wirklich absolut
entwaffnend. Das erste Jahr nach seiner Einlieferung war seine
Führung absolut vorbildlich und er nahm auch mit scheinbar
großem Eifer an den ihm angebotenen Therapieformen teil.
Infolgedessen - das war noch unter meinem Vorgänger - wurden die Sicherheitsvorkehrungen um seine Person geringfügig
gemildert.
Am Nachmittag des 8. Juli 1976 hat er daraufhin über Schmerzen in der Brust geklagt. Im Behandlungszimmer wurden ihm
die Fesseln abgenommen, um das Elektrokardiogramm leichter
durchführen zu können. Einer der Wärter verließ den Raum,
um eine Zigarette zu rauchen; der andere wandte sich für
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