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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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einen
Augenblick von ihm ab. Die Krankenschwester war zum Glück
sehr schnell und kräftig. Auf diese Weise konnte sie zumindest
eines ihrer beiden Augen retten. Sehen Sie sich das mal an.«
Chilton holte ein EKG aus der Schublade und rollte es auf dem
Schreibtisch aus. Er folgte der gezackten Linie mit seinem Zeigefinger. »Hier liegt er auf der Untersuchungsbank. Puls
zweiundsiebzig. Hier packt er den Kopf der Schwester und zieht
ihn zu sich herunter. Hier wird er von dem Wärter überwältigt.
Er hat sich übrigens nicht gewehrt, aber der Wärter hat ihm die
Schulter ausgekugelt. Sehen Sie, was daran seltsam ist? Sein Puls
stieg nie über fünfundachtzig an - auch nicht, als er ihr die Zunge
herausriß.«
Grahams Miene blieb für Chilton undurchdringlich. Der Arzt
ließ sich in seinen Sessel zurücksinken und spreizte seine Finger unter seinem Kinn gegeneinander. Seine Hände waren
trocken und gepflegt.
»Als Lecter eingeliefert wurde, dachten wir erst, uns böte sich
hiermit eine einzigartige Gelegenheit, einen Soziopathen reinster Ausprägung studieren zu können«, fuhr Chilton nach einer
Weile fort. »Leider bekommt man ja nur äußerst selten ein lebendes Exemplar dieser Spezies herein. Lecter ist
außergewöhnlich intelligent, extrem aufnahmefähig; er ist Arzt
und Psychiater und blickt auf eine langjährige berufliche Praxis
zurück - und zugleich ist er ein Massenmörder. Er schien durchaus kooperationsbereit, so daß wir erst dachten, er könnte uns
zu wichtigen neuen Erkenntnissen über diese Art von Abweichung verhelfen. Wir sahen uns schon in Beaumonts Position,
die menschliche Verdauung durch die Öffnung im Bauch des
Heiligen Martin studieren zu können.
Doch weit gefehlt. Ich glaube nicht, daß wir dem Verständnis
dieses Menschen seit dem Tag seiner Einlieferung auch nur einen winzigen Schritt nähergekommen sind. Haben Sie sich je
über einen längeren Zeitraum hinweg mit Lecter unterhalten?« »Nein. Ich habe ihn nur gesehen, als... Ich habe ihn hauptsächlich vor Gericht erlebt. Und Dr. Bloom hat mir seine
Veröffentlichungen in den verschiedenen Fachzeitschriften zugeschickt.«
»Nun, dagegen weiß er bestens über Sie Bescheid«, erklärte
Chilton. »Er hat sich ausgiebig mit Ihnen beschäftigt.« »Haben Sie ihn denn behandelt?
»Ja. Wir hatten insgesamt zwölf Sitzungen. Er ist absolut undurchdringlich - einfach zu gewitzt, als daß die Tests etwas über
ihn aussagen könnten. Edwards, Fabré und selbst Dr. Bloom
haben sich schon an ihm die Zähne ausgebissen. Ihre Aufzeichnungen liegen mir vor. Er war auch für sie ein Rätsel. Natürlich
ist es unmöglich festzustellen, was er nun genau zurückhält oder
ob er mehr weiß, als er sagt. Seit seiner Einlieferung hat er übrigens einige brillante Artikel in führenden psychologischen
Fachzeitschriften veröffentlicht, die sich jedoch ausschließlich
mit Problemen befassen, die er nicht hat. Ich glaube, er befürchtet, daß sich kein Mensch mehr für ihn interessiert, falls sein
Fall ›gelöst‹ werden sollte, und daß er dann für den Rest seines
Lebens in irgendeine drittklassige Anstalt gesteckt wird.« Chilton machte eine Pause. Er hatte ausreichend Erfahrung
darin, seine Patienten bei Therapiesitzungen aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. Er glaubte, nun auch Graham
auf diese Weise unbemerkt studieren zu können.
»Jedenfalls sind wir hier in der Klinik inzwischen zu der einhelligen Meinung gelangt, daß der einzige Mensch, der bisher
ein gewisses Verständnis für das Vorgehen und die Handlungen
von Hannibal Lecter bewiesen hat, Sie sind, Mr. Graham. Können Sie mir irgend etwas über ihn sagen?«
»Nein.«
»Einige Mitglieder unseres Ärztestabs würden vor allem eines gern wissen: Als Sie sich mit Dr. Lecters Morden, sozusagen
mit seinem ›Stil‹ beschäftigten, waren Sie dann imstande, in gewisser Weise seine Fantasien zu rekonstruieren? Und hat Sie
dies in die Lage versetzt, ihn zu überführen?«
Graham gab keine Antwort.
»Uns liegen so gut wie keine Untersuchungen zu dieser Art
von psychischer Störung vor. Meines Wissens gibt es dazu nur
einen einzigen Artikel in der Zeitschrift für abnormale Psychologie.
Wären Sie möglicherweise bereit, mit einigen unserer Ärzte zu
sprechen - nein, nein, selbstverständlich nicht bei dieser Gelegenheit -, Dr. Bloom hat mir diesbezüglich strengste
Zurückhaltung auferlegt. Er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, Sie in Frieden zu lassen. Aber vielleicht bei Ihrem

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