Roter Drache
an die Ermordung der Familie machte. Damit sah sich die Polizei vor die Frage gestellt, ob sie diese Theorie publik machen sollte oder nicht. War die Öffentlichkeit über die Vorzeichen einer neuen Tat in Kenntnis gesetzt, würden bei der Polizei vielleicht vor der nächsten Tat warnende Hinweise eingehen. Andererseits war jedoch anzunehmen, daß auch der Täter von diesen Warnungen Notiz nahm.
Unter Umständen würde er also sein Vorgehen ändern. Bei der Polizei wurde deshalb ziemlich einhellig die Meinung vertreten, diese geringfügigen Anhaltspunkte geheimzuhalten, und lediglich an sämtliche Tierärzte und Tierasyle im Südosten ein Rundschreiben zu verschicken, worin sie aufgefordert werden sollten, jeden Fall von Haustiermißhandlung unverzüglich zu melden.
Damit war jedoch keineswegs die Öffentlichkeit auf die bestmögliche Weise vor weiteren Übergriffen gewarnt. Es war also eine moralische Frage, hinsichtlich deren Lösung der Polizei nicht recht wohl zumute war.
Man konsultierte deshalb Dr. Alan Bloom in Chicago, der meinte, der Mörder würde vermutlich nur seine Vorgehensweise ändern, sobald er in der Zeitung eine entsprechende Warnung las. Dr. Bloom äußerte allerdings Zweifel, daß der Täter ungeachtet der damit verbundenen Risiken darauf verzichten würde können, sich an den Haustieren seiner künftigen Opfer zu vergreifen. Außerdem machte der Psychiater die Polizei darauf aufmerksam, daß sie sich keineswegs in dem Glauben wiegen dürfe, ihr stünden noch fünfundzwanzig Tage Vorbereitungszeit zur Verfügung - der gesamte Zeitraum bis zum nächsten Vollmond am 25. August.
Am Morgen des 31. Juli, drei Stunden, nachdem Parsons seine Beschreibung des Täters abgegeben hatte, gelangte man schließlich in einer telefonischen Besprechung zwischen der Polizei von Birmingham und Atlanta sowie Crawford in Washington zu einer Entscheidung: Das Rundschreiben an die Tierärzte sollte unverzüglich herausgehen, und nachdem die Polizei drei Tage lang mit der Porträtskizze des Täters die nähere Umgebung des Tatorts abgeklappert hatte, sollten die neuen Erkenntnisse an die Medien weitergeleitet werden.
Während dieser drei Tage gingen nun Graham und die Beamten der Mordkommission von Atlanta mit dem Phantombild des Täters bei den Nachbarn der Leeds’ Klinken putzen. Das Phantombild gab eigentlich nur die Andeutung eines Gesichts wieder, aber sie hofften doch, jemanden ausfindig zu machen, der sein Aussehen etwas spezifizieren hätte können.
Grahams Kopie der Skizze war vom Schweiß seiner Hände an den Rändern schon erheblich aufgeweicht. Oft war es nicht gerade einfach, die Bewohner eines Hauses dazu zu bewegen, ihm zu öffnen. Nachts lag er, sein Hitzeausschlag durch Puder kaum gemildert, in seinem Hotelbett lange wach, um das Problem in seinen Gedanken wie eine Holographie zu umkreisen. Er bemühte sich um das Gefühl, das einer Idee vorausgeht. Vergeblich.
In der Zwischenzeit waren in Atlanta vier Fälle von leichten Verletzungen sowie ein Todesfall zu verzeichnen, die darauf zurückzuführen waren, daß Hausbewohner spät heimkehrende Mitbewohner beschossen. Die Hinweise auf verdächtige Personen und ähnliche nutzlose Tips stiegen rapide an und füllten in den Polizeirevieren die Körbe für eingehende Meldungen. Die Verzweiflung ging um wie eine Grippewelle.
Gegen Abend des dritten Tages kehrte Crawford aus Washington zurück. Er schneite in Grahams Hotelzimmer, als dieser gerade seine durchgeschwitzten Socken von den Füßen streifte.
»Und? War es interessant?« erkundigte er sich.
»Greif dir erst mal morgen selbst so ein Phantombild«, brummte Graham. »Dann wirst du schon sehen.«
»Nur wird das Ganze heute abend bereits in den Nachrichten gesendet werden. Warst du den ganzen Tag zu Fuß unterwegs?«
»Ich kann doch nicht durch ihre Gärten fahren.«
»Ehrlich gestanden, habe ich mir von diesen Phantombildern von Anfang an nichts erwartet.«
»Kannst du mir vielleicht sagen, was ich sonst hätte tun sollen?«
»Alles in deiner Macht Stehende - nicht mehr und nicht weniger.« Crawford schickte sich zum Gehen an. »Zuweilen war harte Arbeit ein richtiges Betäubungsmittel für mich - vor allem, nachdem ich zu trinken aufgehört habe. Und für dich ist es doch ganz ähnlich, möchte ich meinen.«
Graham war wütend, obwohl ihm klar war, daß Crawford natürlich recht hatte.
Graham tendierte stark dazu, anfallende Aufgaben auf die lange Bank zu schieben - eine Eigenschaft, deren er sich sehr
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