Roter Drache
entnervt, ständig in die untergehende Sonne blinzeln zu müssen. Die Frau auf dem Beifahrersitz hatte ihren Kopf auf die Rückenlehne sinken lassen und die Füße auf das Armaturenbrett gelegt. In dieser Stellung bildeten sich zwei Falten quer über ihrem Bauch. An der Innenseite ihres linken Oberschenkels entdeckte Dolarhyde einen Knutschfleck. Als die Frau sich seiner Blicke bewußt wurde, setzte sie sich wieder auf und überkreuzte die Beine. In ihrem Gesicht machte sich erschöpfter Überdruß breit.
Dann sagte sie etwas zu der Frau am Steuer, worauf beide unverwandt nach vorn starrten. Dolarhyde wußte, daß sie über ihn sprachen. Er war ungeheuer froh, daß er deswegen nicht wütend wurde. Es gab nur noch wenige Dinge, die ihn in Wut versetzen konnten. Ihm war klar, daß er mehr und mehr eine abgeklärte Würde entwickelte, die ihm gut anstand.
Die Musik war sehr schön.
Die Schlange vor Dolarhyde begann sich langsam in Bewegung zu setzen. Die Fahrbahn neben ihm war noch immer blockiert. Er freute sich darauf, nach Hause zu kommen. Im Rhythmus der Musik klopfte er mit der einen Hand auf das Lenkrad, mit der ändern kurbelte er das Fenster herunter.
Er rotzte einmal kräftig und spuckte der Frau unter ihm einen grünlichen Schleimbatzen direkt neben dem Nabel auf den nackten Bauch. Schrill gellten ihre wütenden Flüche durch Handels Wassermusik, als er losfuhr.
Dolarhydes riesiges Hauptbuch war mindestens hundert Jahre alt. In schwarzes Leder mit Messingecken gebunden, war es so schwer, daß er es in der verschlossenen Kammer am Ende des Flurs auf einem massiven Schreibmaschinentisch abgelegt hatte. Als er es bei dem Konkursverkauf einer alteingesessenen Druckerei in St. Louis gesehen hatte, war ihm klar, daß er es unter allen Umständen erwerben mußte. Frisch gebadet und mit seinem Kimono bekleidet, schloß er nun die Kammer auf und rollte das Buch heraus. Nachdem er es exakt unter dem Druck des Großen roten Drachen plaziert hatte, ließ er sich davor in einen Sessel nieder und schlug es auf. Der Geruch von stockfleckigem Papier stieg ihm in die Nase. Über die erste Seite hatte er selbst in großen, kunstvoll ausgeführten Lettern die Worte aus der Geheimen Offenbarung geschrieben: »Und es kam ein großer, roter Drache...«
Der erste Gegenstand in dem Buch war der einzige, der nicht sauber eingeklebt war. Lose zwischen den Seiten lag ein vergilbtes Foto von Dolarhyde als kleinem Kind, wie er mit seiner Großmutter auf der Eingangstreppe des großen Hauses stand. Er hielt sich darauf an Großmutters Rockzipfel fest. Und die Großmutter posierte sehr aufrecht und mit über der Brust verschränkten Armen für den Fotografen. Dolarhyde blätterte weiter, als hätte er das Foto versehentlich zwischen den Seiten liegen gelassen.
Das Buch enthielt zahlreiche Zeitungsausschnitte, von denen die ältesten das Verschwinden älterer Frauen aus St. Louis und Toledo zum Inhalt hatten. Den Platz zwischen den Zeitungsausschnitten hatte Dolarhyde in kunstvoller Handschrift, nicht unähnlich der Blakes, in schwarzer Tinte selbst beschriftet. An den Rändern waren herausgebissene Stücke menschlicher Kopfhaut befestigt, die wie in Gottes Sammelalbum gepreßte Kometenschweife von verschiedenfarbigem Haar hinter sich herzogen.
Auch die Zeitungsberichte über die Jacobis fehlten nicht; sie waren mit Filmkassetten und Dias, die in Zellophantüten an den Seitenrand geklebt waren, ergänzt.
Ähnlich waren auch die Vorkommnisse um die Familie Leeds dokumentiert.
Die Bezeichnung ›Zahnschwuchtel‹ war erst seit Atlanta in der Presse aufgetaucht; sie war in allen Zeitungsausschnitten über die Morde an den Leeds durchgestrichen.
Auf die gleiche Weise verfuhr Dolarhyde nun mit dem Ausschnitt aus dem Tattler, indem er jedes ›Zahnschwuchtel‹ mit mehreren wütenden Strichen unkenntlich machte.
Er schlug eine neue, leere Seite auf und schnitt den Artikel aus dem Tattler paßgerecht zu. Sollte er Grahams Foto mit einkleben? Die Worte Geistesgestörte Straftaten, die über Grahams Kopf in Stein gemeißelt waren, störten Dolarhyde. Ihm war der Anblick von Gefängnissen jeder Art verhaßt. Grahams Gesicht blieb ihm verschlossen. Er legte es bis auf weiteres beiseite.
Aber Lecter... Das war kein gutes Foto von dem Doktor. Dolarhyde hatte ein besseres von ihm, das er nun aus einer Schachtel in seinem Schrank holte. Es stammte aus der Zeit von Lecters Verurteilung und brachte den Ausdruck seiner Augen hervorragend zur Geltung.
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