Roter Drache
Vorgeschichte psychischer Labilität an die Spitze der Ermittlungen nach einen verzweifelt gesuchten Massenmörder zu stellen. Über die Natur von Grahams psychischen Problemen herrscht keine Klarheit, aber ein früherer Angestellter besagter Nervenheilanstalt sprach von ›heftigen Depressionen.
Garmon Evans, ein ehemaliger Wärter im Bethesda Naval Hospital, erklärte, Graham wäre in die psychiatrische Abteilung der Klinik eingeliefert worden, nachdem er kurz zuvor Garrett Jacob Hobbs, den ›Würger von Minnesota‹, getötet hatte. Graham hat Hobbs 1975 erschossen und damit dessen achtmonatigem Schreckensregiment über Minneapolis ein Ende bereitet.
Laut Aussagen Evans’ war Graham während der ersten Wochen seines Klinikaufenthalts extrem zurückgezogen; außerdem weigerte er sich lange, Nahrung zu sich zu nehmen oder zu sprechen. Graham war nie FBI-Agent. Mit der Materie vertraute Beobachter führen dies auf die strikte Personalpolitik des FBI zurück, innerhalb derer auf jegliche Formen psychischer Labilität strenges Augenmerk gerichtet wird.
FBI-Quellen ließen dazu nur verlauten, daß Graham ursprünglich für das FBI-Labor tätig war und dann aufgrund seiner herausragenden Leistungen sowohl im Labor wie im Außendienst, wo er gelegentlich als ›Sonderermittler‹ zum Einsatz kam, mit einer Lehrtätigkeit an der FBI-Akademie betraut wurde. Der Tattler brachte in Erfahrung, daß Graham davor Angehöriger der Mordkommission der Polizei von New Orleans war - eine Stellung, die er jedoch aufgab, um an der George Washington University ein gerichtsmedizinisches Studium zu absolvieren.
Ein ehemaliger Kollege von der Mordkommission in New Orleans äußerte sich dazu wie folgt: »Nun, in gewisser Weise ist er natürlich in Pension gegangen, aber den Leuten vom FBI scheint doch etwas wohler bei dem Gedanken zu sein, notfalls auf Graham zurückgreifen zu können. Das ist etwa so, wie wenn man eine Königsviper unterm Haus hat. Sie bekommen sie zwar nur gelegentlich zu sehen, aber es ist doch recht beruhigend zu wissen, daß sie die Mokassinschlangen wegfrißt.«
Dr. Lecter ist zu lebenslanger Haft verurteilt. Sollte er je für geistig zurechnungsfähig erklärt werden, hätte er sich vor Gericht wegen neunfachen Mordes zu verantworten.
Lecters Anwalt hat uns mitgeteilt, daß der Massenmörder seine Zeit damit verbringt, wissenschaftlich anerkannte Artikel für verschiedene Fachzeitschriften zu verfassen und brieflich mit einer Reihe von Kapazitäten auf psychiatrischem Gebiet ›einen regen Gedankenaustausch zu pflegen.‹
Dolarhyde brach seine Lektüre ab und wandte sich statt dessen den Fotos zu. Dem Artikel waren zwei beigefügt. Auf einem davon war Dr. Lecter abgebildet, mit Handschellen an den Türgriff eines Polizeiautos gekettet. Das andere zeigte Will Graham beim Verlassen des Chesapeake State Hospital. Am Ende des Artikels befand sich außerdem ein kleines Foto von Freddy Lounds.
Dolarhyde sah sich die Fotos lange an. Er strich mehrere Male ganz vorsichtig mit der Fingerspitze darüber, so daß er ganz genau die leicht angerauhte Oberfläche des groben Zeitungspapiers spürte. Die Druckerschwärze hinterließ einen schwarzen Abdruck auf seiner Fingerspitze. Er befeuchtete die Stelle mit der Zungenspitze und säuberte sie mit einem Kleenex. Dann schnitt er den Artikel aus und steckte ihn in seine Hosentasche.
Auf dem Heimweg von der Entwicklungsanstalt kaufte sich Dolarhyde sich ein Nasenspray und schnellösliches Toilettenpapier, wie man es vorwiegend auf Booten oder beim Camping verwendete. Trotz seines Heuschnupfens fühlte er sich großartig; wie viele Personen, die sich einer größeren Nasenoperation unterziehen mußten, hatte Dolarhyde keine Haare in den Nasenhöhlen und wurde deshalb von heftigem Heuschnupfen geplagt. Und ebenso von häufigen Infektionen der oberen Atemwege.
Als er auf der Brücke über den Missouri wegen eines Unfalls, in den auch ein riesiger Sattelschlepper verwickelt war, zehn Minuten im Stau stehen mußte, wartete er geduldig. Im Innern seines schwarzen Kombi, der mit Teppichen ausgelegt war, herrschte kühle Stille. Aus dem Kassettengerät kam Handels Wassermusik.
Seine Finger spielten im Takt der Musik mit dem Lenkrad und betupften gelegentliche seine Nase. In der Spur neben ihm standen zwei Frauen in einem Cabrio. Sie trugen Shorts und über der Taille geknotete Blusen.
Aus der Höhe seines Kombis sah Dolarhyde in das Cabrio hinab. Sie schienen gelangweilt und
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