Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
Vom Netzwerk:
Dennoch war er auch mit dieser Aufnahme nicht zufrieden. In Dolarhydes Augen wäre die Lecters Person angemessene Darstellungsweise das düstere Porträt eines Renaissance-Fürsten gewesen. Denn allein Lecter verfügte unter allen Menschen möglicherweise über das Einfühlungsvermögen und die Erfahrung, die Majestät und Großartigkeit, um Dolarhydes Genialität zu begreifen.
Dolarhyde spürte, daß Lecter sich der Unwirklichkeit der Menschen bewußt war, die sterben mußten, um einem bei der Verwirklichung seiner Ideen zu helfen - er verstand bestimmt, daß sie nicht Fleisch waren, sondern Licht und Luft und Farbe und rasche Geräusche, die allesamt ein Ende nahmen, sobald man sie einer Veränderung unterzog. Wie zerplatzende Luftballons. Und daß ihre Bedeutung in ihrer Veränderbarkeit lag und nicht in dem Leben, um das sie flehten, das sie mit allen Mitteln zu retten versuchten. Dolarhyde ertrug die Schreie, wie ein Bildhauer den Staub des bearbeiteten Steins zu ertragen hat. Lecter würde verstehen können, daß Blut und Atem nichts als Elemente waren, die einer Veränderung unterworfen wurden, um sein übermenschliches Strahlen zu nähren. Genauso, wie die Quelle jeden Lichts verbrennen muß.
Nur zu gern hätte er Lecters Bekanntschaft gemacht, mit ihm gesprochen, und sich mit ihm an ihrer gemeinsamen Vision erfreut; nur zu gern hätte er sich von ihm bestätigen lassen, wie Johannes der Täufer den Einen bestätigt hatte, dessen Schuhriemen zu lösen er nicht würdig gewesen war, um dann auf ihm zu hocken wie der Drache auf 666 in Blakes Offenbarungsserie und seinen Tod zu filmen, wie er im Sterben eins wurde mit der Kraft des Drachen.
Dolarhyde streifte sich ein neues Paar Gummihandschuhe über und trat an seinen Schreibtisch. Er rollte ein Stück von dem Toilettenpapier ab, das er auf dem Heimweg gekauft hatte, und warf es in den Abfallkorb. Dann riß er noch einmal einen sieben Blatt langen Streifen ab.
Darauf schrieb er nun mit der linken Hand in sauberen Druckbuchstaben einen Brief an Lecter.
Die Sprachgewandtheit einer Person sagt nicht wirklich etwas über ihre Fähigkeit aus, sich schriftlich auszudrücken. Dolarhydes Sprechweise war durch reale und eingebildete Behinderungen auffällig entstellt und gewunden, und der Unterschied zwischen seiner schriftlichen und mündlichen Ausdrucksfähigkeit war verblüffend. Dennoch fand er, daß er die wichtigsten Dinge, die er empfand, auch beim Schreiben nicht adäquat auszudrücken vermochte. Er wollte eine Antwort von Lecter. Er brauchte eine persönliche Reaktion von Seiten Dr. Lecters, bevor er ihm die wirklich entscheidenden Dinge mitzuteilen vermochte.
Wie sollte er das bewerkstelligen? Er stöberte in seiner Schachtel mit Zeitungsausschnitten über Lecter und las sie alle noch einmal durch.
Schließlich kam er auf eine ganz einfache Möglichkeit, und er schrieb wieder weiter.
Als er den Brief am Ende noch einmal durchlas, erschienen ihm seine Worte zu kleinmütig und schüchtern. Er hatte mit den Worten ›ein glühender Verehren unterschrieben. Diese Unterschrift ließ er sich noch einmal mehrere Minuten durch den Kopf gehen.
Doch, ›ein glühender Verehrer‹ war durchaus angemessen. Sein Kinn hob sich gebieterisch ein klein wenig.
Er steckte seinen behandschuhten Daumen in den Mund, nahm sein Gebiß heraus und legte es auf die Schreibtischunterlage.
Die obere Platte war etwas ungewöhnlich. An den Zähnen war nichts weiter Auffälliges; sie waren wohlgeformt und weiß. Doch die Gaumenplatte aus rosa Acryl war extrem unregelmäßig geformt, um sich den Klüften und Spalten seines Zahnfleisches anpassen zu können. An der Platte war außerdem eine Weichplastik-Prothese befestigt, mit einem Obturator an ihrem Ende, der ihm erlaubte, beim Sprechen die Gaumenspalten zu schließen.
Er nahm einen kleinen Behälter von seinem Schreibtisch, in dem sich ein zweites Gebiß befand. Die Gaumenplatte war die gleiche, nur fehlte ihr die Prothese. Die schiefen Zähne wiesen dunkle Verfärbungen auf und strömten einen leicht unangenehmen Geruch aus.
Das Gebiß war mit dem der Großmutter identisch, das sich in dem Glas auf dem Nachttisch in ihrem Schlafzimmer befand.
Dolarhydes Nasenlöcher weiteten sich etwas von dem Geruch. Er öffnete sein eingesunkenes Lächeln und steckte sich das Gebiß in den Mund, um es unverzüglich mit der Zunge zu befeuchten.
Er faltete den Brief über der Unterschrift und biß dann kräftig darauf. Als er den Brief noch einmal

Weitere Kostenlose Bücher