Roter Drache
Darauf schaltete Crawford sich wieder in das Gespräch mit Graham ein.
»Will... ein versteckter Brief in Lecters Zelle, möglicherweise von der Zahnschwuchtel. Hört sich an wie ein Fanbrief. Er buhlt um Lecters Anerkennung; außerdem interessiert er sich für dich. Er hat ihm verschiedene Fragen gestellt.«
»Wie sollte Lecter die beantworten?«
»Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Ein Teil ist herausgerissen. Sieht ganz so aus, als könnten die beiden in Briefkontakt treten, solange Lecter nicht spitzkriegt, daß wir Bescheid wissen. Ich möchte den Brief im Labor untersuchen lassen; außerdem würde ich gern Lecters Zelle unter die Lupe nehmen lassen, was natürlich mit gewissen Risiken verbunden ist. Falls Lecter Lunte riecht - wer weiß, wie er dann diesem Dreckskerl eine Warnung zukommen lassen würde. Wir sind auf diese Verbindung angewiesen, aber wir brauchen auch den Brief.«
Crawford erzählte Graham, daß Lecter vorübergehend in eine andere Zelle verlegt worden war und wo man den Brief entdeckt hatte. »Von hier sind es achtzig Meilen nach Chesapeake raus. Ich kann also nicht so lange warten, bis du hier eingetroffen bist. Oder was denkst du?«
»Zehn Tote in einem Monat - angesichts dessen dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich würde sagen, sieh zu, daß du schleunigst nach Chesapeake kommst.«
»Gut«, erklärte Crawford.
»Dann also bis in zwei Stunden.«
Crawford rief nach seiner Sekretärin. »Sarah, fordern Sie einen Hubschrauber an. Ich brauche den erstbesten, der gerade bereitsteht - und zwar ganz gleich, wem er gehört - uns, dem DCPD oder den Marines. Ich bin in fünf Minuten auf dem Dach. Rufen Sie die Dokumentenabteilung an und sagen Sie ihnen, sie sollen dort oben einen Dokumentenbehälter bereithalten. Verständigen Sie Herbert, er soll ein Durchsuchungsteam zusammentrommeln. Auf dem Dach. In fünf Minuten.«
Er schaltete sich wieder zu Chilton.
»Dr. Chilton, wir müssen Lecters Zelle durchsuchen, ohne daß er etwas davon merkt. Wir sind dazu auf Ihre Unterstützung angewiesen. Haben Sie sonst schon jemandem davon erzählt?«
»Nein.«
»Wo ist der Raumpfleger, der den Brief entdeckt hat?«
»Hier in meinem Büro.«
»Sorgen Sie bitte dafür, daß er vorerst dort bleibt und zu niemandem darüber spricht. Wie lange ist Lecter schon aus seiner Zelle ausquartiert worden?«
»Etwa eine halbe Stunde.«
»Ist das ungewöhnlich lange?«
»Nein, bis jetzt noch nicht. Aber normalerweise dauert das Saubermachen nur eine halbe Stunde. Deshalb dürfte er sicher bald mißtrauisch werden.«
»Gut, würden Sie dann bitte folgendes veranlassen: Der Hausmeister, oder wer auch immer dafür zuständig ist, soll unverzüglich den Haupthahn für die Wasserversorgung in Lecters Trakt abdrehen, und dann soll er mit seinem Werkzeug an Lecters Zelle vorbei den Flur runterhasten. Er muß in Eile sein, stocksauer und auf jeden Fall zu beschäftigt, um irgendwelche Fragen zu beantworten - Sie verstehen doch, worauf ich hinauswill? Sagen Sie dem Mann, ich werde ihm das Ganze später erklären. Bestellen Sie außerdem für heute die Müllabfuhr ab, falls sie nicht schon da war. Und rühren Sie den Brief nicht an, ja? Wir sind schon unterwegs.«
Dann rief Crawford den Leiter der Abteilung für wissenschaftliche Analysen an. »Brian, ich lasse gleich einen Brief einfliegen, der vermutlich von der Zahnschwuchtel stammt. Dringlichkeitsstufe eins. Er muß binnen einer Stunde wieder dort zurück sein, wo wir ihn herhaben. Er wird an die Abteilungen für Haare und Fasern, Fingerabdrücke und Dokumente gehen und dann an Sie; klären Sie das mit denen schon mal ab... Ja, das erledige ich persönlich. Ich werde ihn selbst abliefern.«
Im Lift war es warm - die zulässigen achtundzwanzig Grad , als Crawford, das Haar vom Luftzug der Hubschraubermotoren kräftig zerzaust, mit dem Brief vom Dach herunterkam. Bis er die Abteilung für Haare und Fasern des Labors erreicht hatte, wischte er sich bereits den Schweiß aus der Stirn.
Haare und Fasern war eine kleine Abteilung, ruhig und beschäftigt. Im Hauptraum stapelten sich Behälter mit Beweismaterial, das von Polizeistationen aus dem ganzen Land zur Untersuchung eingeschickt wurde - Unmengen von Klebstreifen, mit denen Münder verschlossen und Handgelenke zusammengebunden worden waren, zerrissene und fleckige Kleidungsstücke, Totenbettlaken.
Crawford entdeckte Beverly Katz durch das Fenster des Untersuchungsraums, als er sich zwischen den Stapeln von Schachteln
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