Roter Drache
hindurchschlängelte. Über einem mit weißem Papier ausgelegten Tisch hatte sie an einem Kleiderbügel einen Kinderoverall vor sich hängen. Unter der hellen Beleuchtung in dem zugfreien Raum schabte sie den Overall mit einem Metallspachtel sorgfältig ab; einmal quer, einmal längs. Etwas Erde und Sand rieselte auf das Papier nieder. Gleichzeitig schwebte in der vollkommen reglosen Luft - langsamer als der Sand, aber schneller als die Schuppen - ein eng eingerolltes Haar nach unten. Beverly neigte ihren Kopf zur Seite und begutachtete es mit ihrem hellen Rotkehlchenauge. Crawford konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Er wußte, was sie sagte.
»Hab’ ich dich.«
Das war es, was sie immer sagte.
Als Crawford gegen das Glas klopfte, kam sie unverzüglich nach draußen und streifte ihre weißen Handschuhe ab.
»Auf Fingerabdrücke ist er noch nicht untersucht worden?«
»Nein.«
»Ich habe im anderen Untersuchungsraum alles vorbereitet.« Während Crawford den Dokumentenbehälter öffnete, schlüpfte sie in ein frisches Paar Handschuhe.
Die zwei Teile des Briefs waren sorgsam zwischen zwei Lagen durchsichtigen Plastikfilm eingebettet. Beim Anblick der Gebißabdrücke sah Beverly Katz zu Crawford auf, ohne für eine Frage Zeit zu verschwenden.
Crawford nickte: Die Abdrücke stimmten mit dem rekonstruierten Gebiß des Mörders überein, das er mit nach Chesapeake genommen hatte.
Durch das Fenster beobachtete Crawford, wie sie den Brief an einer dünnen Stange über weißem Papier aufhängte. Sie sah ihn sich mit einem starken Vergrößerungsglas an und befächelte ihn dann behutsam. Daraufhin klopfte sie mit dem Spachtel gegen die Aufhängung und studierte das Papier darunter mit dem Vergrößerungsglas.
Crawford sah auf seine Uhr.
Beverly Katz hängte den Brief nun mit der unteren Seite nach oben über eine andere Stange. Mit einer Pinzette entfernte sie einen fast haarfeinen Gegenstand von seiner Oberfläche. Nachdem sie die Rißstellen des Briefs unter extrem starker Vergrößerung fotografiert hatte, plazierte sie den Brief wieder zwischen den beiden Plastiklagen, um ihn dann zusammen mit einem Paar weißer Handschuhe in den Dokumentenbehälter zu legen. Die weißen Handschuhe - das Zeichen für ›Nicht berührend - würden das Beweismaterial begleiten, bis es auf Fingerabdrücke untersucht war.
»Das war’s«, erklärte sie schließlich und reichte Crawford den Behälter. »Ein Haar, vielleicht einen knappen Millimeter lang. Ein paar blaue Körnchen. Mal sehen, was sich damit machen läßt. Was haben Sie sonst noch?«
Crawford überreichte ihr drei beschriftete Umschläge. »Haar aus Lecters Kamm. Barthaare aus dem elektrischen Rasierapparat, den er benutzen darf. Und das hier sind Haare des Raumpflegers. Aber ich muß jetzt weiter.«
»Bis dann also«, verabschiedete ihn Beverly Katz. »Ihr Haar wäre mir viel lieber.«
Der Anblick des porösen Toilettenpapiers ließ Jimmy Price in der Abteilung für latente Fingerabdrücke zusammenzucken. Angestrengt blinzelte er über die Schulter seines Technikers, der den Helium-Kadmium-Laser bediente, mit dessen Hilfe sie einen Fingerabdruck zu finden und zum Fluoreszieren zu bringen versuchten. Matt leuchtende Flecken erschienen auf dem Papier, Schweißrückstände, nichts.
Crawford wollte sich eben mit einer Frage an Price wenden, besann sich jedoch eines Besseren und wartete statt dessen, während sich das bläuliche Licht in seiner Brille spiegelte.
»Wir wissen, daß den Brief auf jeden Fall drei Personen ohne Handschuhe angefaßt haben müssen, oder nicht?« sagte Price.
»Ja, der Raumpfleger, Lecter und Chilton.«
»Der Kerl, der die Waschbecken geputzt hat, hatte sich vermutlich das Öl von den Fingern gewaschen. Aber die anderen einfach schrecklich, dieses Zeug.« Price hielt das Papier gegen das Licht; die Pinzette in seiner altersfleckigen Hand zitterte nicht. »Ich könnte den Brief mal anräuchern, Jack, aber ich kann nicht dafür garantieren, daß die Jodflecken in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, wieder verschwunden sind.«
»Und wie war’s mit Ninhydrin? Die Wirkung durch eine leichte Erwärmung verstärkt?« Normalerweise hätte Crawford sich nie angemaßt, Price mit praktischen Ratschlägen zu kommen, aber im Moment griff er nach jedem rettenden Strohhalm. Deshalb erwartete er auch eine entsprechend mürrische Antwort des Fingerabdruckspezialisten, aber der klang eher niedergeschlagen und bedauernd, als er entgegnete: »Nein. Wir
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