Roter Drache
in der Brust war, in seinem und Willys Fall darauf bestand, daß sie sich vierteljährlich gründlich ärztlich untersuchen ließen, und die so tapfer gegen ihre Angst vor der Dunkelheit ankämpfte; und die sich über all dem das hart erkämpfte Wissen erworben hatte, daß jede Stunde kostbar war. Sie verstand es, jeden neuen Tag als ein Geschenk anzunehmen. Sie wußte den Augenblick zu schätzen. Und sie hatte diese Kunst auch Graham gelehrt.
Ein Kanon von Pachelbel durchströmte den sonnenüberfluteten Raum, in dem sie einander näher kamen; und eine Freude stieg zwischen ihnen auf, zu gewaltig, um ihr Dauer zu verleihen, und selbst in diesem perfekten Augenblick flackerte wie der Schatten eines Flußadlers die Angst über ihn hinweg: Das ist zu schön, um von langer Dauer sein zu können.
Während Molly sich zwischen den Regalen mit Lebensmitteln auf und ab bewegte, wechselte sie ihre Handtasche ungewöhnlich häufig von einer Schulter auf die andere - als wöge die Schußwaffe darin mehr als ihre sechshundert Gramm.
Graham hätte sich ganz schön geärgert, wenn er sich hätte anhören müssen, was er den Melonen vormurmelte: »Ich werde schon dafür sorgen, daß dieses Schwein in einen Plastiksack gesteckt wird. Das möchte ich doch mal sehen.«
Auf unterschiedliche Weise mit Lügen, Schußwaffen und Einkäufen beladen, bildeten die drei einen kleinen, ernsten Trupp.
Molly hatte längst Lunte gerochen. Sie und Graham sprachen nicht mehr, nachdem das Licht aus war. Molly träumte von schweren, irren Schritten, die immer tiefer in ein Haus mit ständig sich verändernden Räumen eindrangen.
19. K APITEL
A uf dem Lambert International Airport von St. Louis gibt es einen Zeitungsstand, der die meisten größeren Zeitungen aus den Vereinigten Staaten führt. Sie werden dort aus den großen Städten des Landes wie New York, Washington, Chicago und Los Angeles eingeflogen, so daß sie noch am Tag ihres Erscheinens auch in St. Louis erhältlich sind.
Wie die meisten Zeitungsstände dieser Art gehörte auch die
ser einer Kette an und war daher verpflichtet, neben den seriösen Zeitungen auch allen möglichen Schund zu führen.
Und so wurde Montagabend um zweiundzwanzig Uhr mit der Abendmaschine aus Chicago nicht nur die Tribune geliefert, sondern auch ein schwerer Packen mit Tattlers, der in der Mitte noch warm war. Der Nachtschichtverkäufer des Zeitungsstands kauerte vor seinen Regalen und ordnete die in Unordnung geratenen Zeitschriften ein. Dabei hätte er weiß Gott wichtigere Dinge zu tun gehabt. Aber die Kollegen von der Tagesschicht waren sich dafür wohl zu schade.
In diesem Moment rückten ein Paar schwarzer Stiefel mit Reißverschlüssen in sein Gesichtsfeld. Ein Kunde, der in den Regalen stöbern wollte.
Nein, die Stiefelspitzen zeigten auf ihn. Jemand wollte etwas von ihm.
Der Zeitungsverkäufer wollte erst noch die Tribunes im Regal unterbringen, doch die beharrliche Aufmerksamkeit, mit der er dabei beobachtet wurde, verursachte ihm ein leichtes Prickeln im Hinterkopf.
Zeitungsstände auf einem Flughafen hatten keinen festen Kundenstamm. Er hatte es also nicht nötig, zuvorkommend zu sein. »Was wollen Sie?« fragte er, ohne sich die Mühe zu machen aufzusehen.
»Einen Tattler.«
»Da müssen Sie warten, bis ich den Packen aufreiße.«
Die Stiefel rührten sich nicht von der Stelle. Sie waren eindeutig zu nahe.
»Haben Sie nicht gehört? Ich habe gesagt, Sie müssen warten, bis ich den Packen aufreiße. Sie sehen doch, daß ich hier zu tun habe.«
Eine Hand und ein kurzes Aufblitzen von hellem Stahl, und die Schnur, mit der der Packen Zeitungen neben ihm verschnürt war, sank unter einem leisen Floppen an den Seiten herab. Ein Dollar klirrte vor dem Verkäufer auf den Steinboden. Eine saubere Ausgabe des Tattler, aus der Mitte des Packens gerissen, ließ die obenauf liegenden Zeitungen zu Boden rutschen.
Der Verkäufer stand auf. Blut stieg ihm in die Wangen. Der Mann hatte sich bereits mit der Zeitung unter dem Arm zum Gehen gewandt.
»Hey. Hey, Sie da.«
Der Mann drehte sich zu ihm um. »Meinen Sie mich?«
»Ja, Sie. Ich hab’ Ihnen doch gesagt -«
»Was haben Sie mir gesagt?« Er kam zurück und blieb eindeutig zu dicht vor dem Verkäufer stehen. »Was haben Sie mir gesagt?«
In der Regel vermag ein grober Verkäufer seine Kunden ziemlich einzuschüchtern. Aber der Ruhe, die dieser Zeitungskäufer an den Tag legte, haftete etwas Beängstigendes an.
Der Verkäufer senkte den Blick zu Boden. »Sie
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