Roter Drache
verschwommenen Linien einer Zimmerecke. Er hustete kurz und begann zu sprechen.
»Ein Unfall? Bin ich schwer verletzt?«
Die Stimme hinter ihm: »Nein, Mr. Lounds. Ihnen fehlt nichts.«
»Mein Rücken schmerzt aber. Und meine Haut. Habe ich Verbrennungen erlitten? Ich hoffe nur, daß ich keine Verbrennungen habe.«
»Verbrennungen? Nein, Verbrennungen haben Sie keine. Ruhen Sie sich erst mal ein Weilchen aus. Ich bin gleich wieder zurück.«
»Ich möchte mich hinlegen. Hören Sie, ich muß unbedingt in der Redaktion anrufen. Mein Gott, ich liege in einem Stützkorsett. Ich habe mir das Rückgrat gebrochen - machen Sie mir bloß nichts vor.« Statt einer Antwort hörte er nur leise sich entfernende Schritte.
»Was soll ich hier?« Die Frage wurde zunehmend schriller.
Die Antwort kam von weit hinter ihm. »Büßen, Mr. Lounds.«
Der Reporter hörte jemanden eine Treppe hinaufsteigen, gefolgt vom Rauschen einer Dusche. Sein Kopf wurde langsam klarer. Er konnte sich noch erinnern, die Redaktion verlassen zu haben und nach Hause gefahren zu sein. Was dann passiert war, wußte er nicht mehr. Eine Seite seines Kopfs schmerzte heftig, und der Chloroformgeruch verursachte ihm ein heftiges Würgen. Unnachgiebig aufrechtgehalten, fürchtete er, sich übergeben zu müssen und an seinem Erbrochenen zu ersticken.
Er riß den Mund weit auf und holte tief Luft. Er konnte sein Herz klopfen hören.
Lounds hoffte, er würde träumen. Er versuchte, seinen Arm von der Lehne zu heben, wobei er den Zug ganz bewußt so lange erhöhte, bis die Schmerzen in seiner Handfläche und an seinem Unterarm so stark wurden, daß sie ihm aus jedem Traum hätten aufwachen lassen. Er schlief also nicht. Sein Verstand arbeitete zusehends schärfer.
Wenn er sich anstrengte, konnte er seine Augen so weit verdrehen, daß er für ein paar Sekunden seinen Arm ins Blickfeld bekam. Und nun sah er auch, wie er an dem Rollstuhl befestigt war. Das war kein Stützverband zum Schutz eines gebrochenen Rückens. Ebensowenig befand er sich in einem Krankenhaus. Jemand hatte ihn gefangen genommen.
Lounds bildete sich ein, über sich Schritte zu hören; aber vielleicht war es auch nur das Klopfen seines Herzens.
Er versuchte nachzudenken. Er gab sich wirklich Mühe. Schön ruhig bleiben, redete er sich gut zu. Und versuche nachzudenken. Ruhe bewahren und nachdenken.
Die Treppe knarzte, als Dolarhyde wieder nach unten kam.
Lounds spürte sein Gewicht bei jedem seiner Schritte. Und dann stand jemand hinter ihm.
Lounds hatte bereits mehrere Worte hervorgestoßen, bevor er die Lautstärke seiner Stimme im Griff hatte. »Ich habe Ihr Gesicht nicht gesehen. Ich könnte Sie also nicht identifizieren. Ich weiß nicht, wie Sie aussehen. Der Tattler - ich arbeite für den National Tattler - würde eine hohe Belohnung für mich zahlen. Eine halbe Million. Vielleicht sogar eine ganze Million. Eine Million Dollar.«
Hinter ihm Schweigen. Dann das Quietschen von den Springfedern des Sofas. Er setzte sich also. »Was denken Sie jetzt, Mr. Lounds?«
Kümmere dich nicht um die Schmerzen und die Angst und denk nach. Jetzt. Für alle Zeiten. Um Zeit zu gewinnen. Um noch Jahre verleben zu können. Er hat nicht vor, mich umzubringen. Er läßt mich sein Gesicht nicht sehen.
»Was denken Sie jetzt, Mr. Lounds?«
»Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist.«
»Wissen Sie denn nicht, wer ich bin, Mr. Lounds?«
»Nein, und ich will es auch gar nicht wissen. Glauben Sie mir.«
»Ihren Aussagen zufolge bin ich ein fieser, perverser sexueller Versager. Eine Bestie, wie Sie selbst gesagt haben. Vermutlich von irgendeinem allzu wohlwollenden Richter aus einer Anstalt auf die Menschheit losgelassen.« Unter anderen Umständen hätte Dolarhyde den Zischlaut /s/ in ›sexuell‹ sicher vermieden. Doch angesichts dieser Zuhörerschaft, der das Lachen bis auf weiteres vergangen sein würde, fühlte er sich frei und ungehemmt. »Jetzt wissen Sie doch Bescheid, oder etwa nicht?«
Nicht lügen. Schnell denken. »Ja.«
»Weshalb verbreiten Sie solche Unwahrheiten, Mr. Lounds? Weshalb behaupten Sie, ich wäre verrückt? Antworten Sie.«
»Wenn ein Mensch... wenn ein Mensch Dinge tut, die die meisten Leute nicht verstehen können, dann nennen sie ihn...«
»Verrückt.«
»Nehmen Sie zum Beispiel nur... die Gebrüder Wright. Die Geschichte ist voll von Fällen -«
»Die Geschichte. Begreifen Sie endlich, was ich tue, Mr. Lounds?«
Begreifen. Da war es. Eine Chance. Nutze sie. »Nein, aber ich glaube, es
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