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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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abzuknallen versuchen wird. Er könnte mir zwar durchaus ein Schnippchen schlagen, aber ich glaube eigentlich nicht, daß er sich dabei eines Gewehrs mit Zielfernrohr bedienen wird.«
»Wir werden auf allen höher gelegenen Punkten Scharfschützen postieren.«
Sie dachten beide dasselbe. Eine kugelsichere Weste würde Graham gegen die Neun-Millimeter-Automatik der Zahnschwuchtel und gegen sein Messer schützen, solange er sich nicht seinen Kopf vornahm. Den zu schützen gab es keine Möglichkeit, falls ein Gewehrschütze aus einem Versteck das Feuer auf ihn eröffnete.
»Mit Lounds kannst du doch reden. Mich braucht ihr dazu nicht unbedingt.«
»Er muß ein Interview mit dir machen, Will«, sagte Crawford sanft. »Und er braucht ein paar Fotos von dir.«
Bloom hatte Crawford bereits gewarnt, daß er hinsichtlich dieses Punkts wohl mit einigen Schwierigkeiten zu rechnen haben würde.

18. K APITEL

    A ls es schließlich soweit war, sollte Graham sowohl Bloom wie Crawford überraschen. Er schien durchaus bereitwillig, Lounds zu treffen, und mit Ausnahme der kalten blauen Augen war sein
    Gesichtsausdruck sogar freundlich.
Die Tatsache, daß ihre Besprechung im FBI-Hauptquartier stattfand, wirkte sich durchaus positiv auf Lounds’ Auftreten aus. Er konnte sogar höflich und zurückhaltend sein, wenn es die Situation erforderte, und er machte seine Fotos rasch und unaufdringlich.
Nur einmal schaltete Graham auf stur; er weigerte sich strikt, Lounds in Mrs. Leeds’ Tagebuch oder sonstige private Korrespondenz der Familie Einblick zu gewähren.
Als schließlich das Interview begann, antwortete er auf Lounds’ Fragen in neutralem, aber höflichem Ton. Beide Männer zogen dabei ihre in vorheriger Absprache mit Dr. Bloom angefertigten Notizen zu Rate. Entsprechend häufig wurden sowohl Fragen wie Antworten neu formuliert.
Für Alan Bloom war es schwierig gewesen, seine Strategie auf Provokation hin auszurichten. Deshalb begnügte er sich damit, lediglich seine Theorien über die Persönlichkeitsstruktur der Zahnschwuchtel zu äußern. Die anderen lauschten seinen Ausführungen wie Karateschüler einer Anatomievorlesung.
Dr. Bloom wies darauf hin, daß die Taten der Zahnschwuchtel und sein Brief auf extrem stark ausgeprägte Wahnvorstellungen schließen ließen, durch die ein unerträglicher Minderwertigkeitskomplex kompensiert werden sollte. Die Tatsache, daß er sämtliche Spiegel am Tatort zerschlagen hatte, sprach eindeutig dafür, daß dieser Minderwertigkeitskomplex mit seinem Aussehen zusammenhing.
Die Erbitterung des Mörders über seinen Spitznamen ›Zahnschwuchtel‹ schien Dr. Bloom in den homosexuellen Konnotationen des Wortes ›Schwuchtel‹ begründet. Bloom ging deshalb von einer unterschwelligen homosexuellen Konfliktsituation aus, von einer schrecklichen Angst, selbst homosexuell zu sein. Bestärkt sah Dr. Bloom sich in dieser Annahme durch einen seltsamen Sachverhalt, der im Haus der Familie Leeds beobachtet worden war: Faltspuren und verdeckte Blutflecken deuteten darauf hin, daß der Täter Charles Leeds nach seinem Tod eine Unterhose angezogen hatte. Dr. Bloom vertrat die Ansicht, daß dies geschehen war, um sein mangelndes Interesse an Leeds hervorzustreichen.
Dann kam der Psychiater auf die nachhaltige Verknüpfung von aggressiven und sexuellen Triebstukturen zu sprechen, die bei Sadisten schon in frühen Jahren auftreten.
Die brutalen Attacken, die vor allem gegen die Frauen gerichtet waren und im Beisein ihrer Familien vollzogen wurden, stellten eindeutig ein Aufbegehren gegen eine Mutterfigur dar. Im Raum auf und ab schreitend und halb zu sich selbst sprechend, bezeichnete Bloom den Mörder als ›das Kind eines Alptraums‹. Angesichts des unverkennbaren Mitgefühls in seinem Tonfall senkten sich Crawfords Lider.
    In dem Interview mit Lounds machte Graham Aussagen, zu denen sich kein FBI-Agent hätte hinreißen lassen und die keine seriöse Zeitung abgedruckt hätte.
    Er äußerte Vermutungen, daß die Zahnschwuchtel häßlich und Personen beiderlei Geschlechts gegenüber impotent war; außerdem behauptete er fälschlich, der Mörder hätte sich an seinen männlichen Opfern sexuell vergangen. Graham erklärte, die Zahnschwuchtel wäre sicher die Witzfigur seines Bekanntenkreises und der Sproß eines inzestuösen Elternhauses.
    Besondere Betonung legte er auf die Feststellung, daß die Zahnschwuchtel offensichtlich nicht annähernd so intelligent war wie Hannibal Lecter. Außerdem erklärte er

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