Roter Engel
gewesen war.
Die Polizei wird sagen, ich bin schuld. Irgendwie wird sie mir die Schuld geben.
Sie stand auf und merkte, daß sie weiche Knie hatte. Das
Ding
lag immer noch da, aber das blaue Auge war stumpf und trocken geworden. Sie machte einen Bogen darum, wich den Blutlachen aus und ging zum Schrank. In der obersten Schublade war Geld – Annies Geld –, aber Annie würde es jetzt nicht brauchen. Soviel hatte Molly von dem verstanden, was die Sanitäter gesagt hatten. Annie war tot.
Sie holte ein Bündel Zwanzig-Dollar-Scheine heraus. Dann zog sie sich schnell Sachen von Annie an, Stretchhosen mit einem elastischen Baucheinsatz und ein riesiges T-Shirt mit dem Aufdruck
Oh, Baby
auf der Brust. Schwarze Turnschuhe. Dann zog sie sich noch Annies ebenso riesigen Regenmantel über, stopfte das Geld in ihre Handtasche und flüchtete aus der Wohnung.
Sie war gerade auf der anderen Straßenseite, als der Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht vor dem Haus anhielt. Zwei Cops gingen hinein. Ein paar Sekunden später sah sie ihre Schatten vor Annies Fenster.
Sie sahen sich jetzt bestimmt das
Ding
an. Fragten sich, was das zu bedeuten hatte.
Ein Cop trat ans Fenster und sah hinaus.
Molly schlüpfte um die Ecke und rannte los. Sie rannte, bis sie außer Atem war und nur noch taumelte. Sie duckte sich in einen Hauseingang und sank auf die Stufe. Ihr Herz schlug rasend bis hinauf in den Hals.
Der Himmel wurde langsam hell.
Sie blieb auf der Stufe sitzen, bis der Morgen gekommen war und ein Mann aus der Tür trat, der ihr sagte, sie solle weitergehen. Sie gehorchte.
Ein paar Blocks weiter ging sie in eine Telefonzelle und rief das City Hospital an. »Ich möchte wissen, wie es meiner Freundin geht«, sagte sie. »Sie wurde von einer Ambulanz eingeliefert.«
»Wie heißt Ihre Freundin?«
»Annie. Sie haben sie aus ihrer Wohnung abgeholt – die Sanitäter sagten, sie atmete nicht mehr …«
»Darf ich Sie fragen, ob Sie eine Verwandte sind?«
»Nein, ich bin nur … ich meine …«
Molly erstarrte. Ein Streifenwagen fuhr vorbei und schien langsamer zu werden, als er auf Mollys Höhe war. Dann fuhr er aber weiter.
»Hallo, Ma’am? Könnte ich erfahren, mit wem ich spreche?«
Molly hängte ein. Der Streifenwagen war abgebogen und nicht mehr zu sehen. Sie verließ die Telefonzelle und rannte weiter.
Detective Roy Sheehan machte es sich mit seiner stattlichen Figur auf einem Hocker an Dvoraks Labortisch bequem und fragte: »Okay, was ist also ein Prion?«
Dvorak sah vom Mikroskop auf und konzentrierte seinen Blick auf den Cop. »Bitte?«
»Ich habe mich nur mit Ihrem Mädchen unterhalten, mit Lisa.«
Natürlich,
dachte Dvorak. Entgegen Dvoraks Rat suchte Sheehan das Leichenschauhaus jetzt seit Tagen regelmäßig auf. Der wahre Zweck war natürlich nicht die Untersuchung toter Menschen, sondern das Liebäugeln mit einem lebendigen.
»Übrigens ein wirklich kluges Mädchen«, sagte Sheehan. »Jedenfalls sagt sie, die Creutzfeldt-Jakob-Geschichte – sage ich das richtig? -wird von so was wie einem Prion hervorgerufen.«
»Das stimmt.«
»Man kann es sich also einfangen? So, als flöge es durch die Luft?«
Dvorak betrachtete seinen Finger, an dem die Schnittwunde gerade verheilt war. »Im üblichen Sinne
einfangen
kann man es sich nicht.«
»Toby Harper sagt, es wird eine Epidemie.«
Dvorak schüttelte den Kopf. »Ich habe mit der Arzneimittelkommission und dem Gesundheitsamt gesprochen. Sie sagen beide, es gibt keinen Anlaß zur Besorgnis. Die Hormonversuchsreihe von Dr. Wallenberg ist total sicher. Und das Gesundheitsamt findet an der Führung von Brant Hill nichts auszusetzen.«
»Und warum geht Dr. Harper immer noch gegen Brant Hill vor?«
Dvorak überlegte. Zögernd sagte er dann: »Sie steht im Moment sehr unter Druck. Sie erwartet eine mögliche Anklage wegen eines ihrer Patienten, der verschwunden ist. Und der Tod von Dr. Brace war für sie ein furchtbarer Schock. Wenn einem im Leben alles danebengeht, ist es ganz natürlich, wenn man nach einem – oder nach etwas – sucht, dem man die Schuld geben kann.« Er nahm einen neuen Objektträger und schob ihn unter das Objektiv. »Ich glaube, sie hat schon seit langer Zeit ziemlichen Streß.«
»Sie haben gehört, was mit ihrer Mutter passiert ist?«
Dvorak zögerte. »Ja«, sagte er ruhig. »Sie hat mich gestern angerufen.«
»Hat sie das? Sie beide reden noch miteinander?«
»Warum sollten wir nicht? Gerade jetzt braucht sie einen Freund,
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