Roter Engel
Maus ist es das Lhx3. Ein LIM-Homoeobox-Gen, auch kurz Hox-Gen genannt.«
Er lachte. »Nun ist mir alles klar.«
»Ich erwarte gar nicht, daß Sie das vollständig begreifen, Daniel. Ich möchte nur, daß Sie das Konzept verstehen, das dahintersteckt. Es gibt sogenannte ›Mastergene‹, die der Entwicklung primordialer Zellen eine bestimmte Richtung geben. Ein Mastergen für die Entwicklung eines Auges, eines für ein Glied, wieder ein anderes für die Hypophyse.«
»Na gut«, sagte Dvorak. »Ich glaube, soweit haben wir das kapiert. Irgendwie.«
Dr. Marx lächelte. »Dann sollte Ihnen der nächste Schritt leichtfallen. Kombinieren Sie mal diese beiden Forschungs-ergebnisse miteinander und überlegen sich, was sie wohl
zusammen
bedeuten. Ein Mastergen, daß die Entwicklung einer Hypophyse in Gang setzt. Und eine Fruchtfliege, die mit vierzehn Augen ausschlüpft.« Sie sah erst Toby, dann Dvorak an. »Merken Sie, worauf ich hinauswill?«
»Nein«, sagte Toby.
»Nein«, sagte Dvorak fast gleichzeitig.
Dr. Marx seufzte. »Also gut. Ich erzähle Ihnen mal, was ich bei der Sektion des Gewebes entdeckt habe. Ich habe dieses Exemplar, das Daniel mir geschickt hat und das er für einen mißgebildeten Fötus hielt, reseziert. So etwas war mir noch nie untergekommen, dabei habe ich kongenitale Abnormitäten schon tausendfach untersucht. Also, das menschliche Genom besteht aus 100000 Genen. Dieses
Ding
scheint dagegen nur über einen Bruchteil des normalen Genoms zu verfügen. Und das, was vorhanden war, war größtenteils zerrissen. Das ganze Genom wurde Opfer einer Katastrophe. Das Ergebnis? Es ist, als hätte man einen Fötus zerlegt und dann versucht, ihn ohne eine bestimmte Ordnung wieder zusammenzufügen. Arme, Zähne, Gehirn, alles einfach zusammengeklumpt.«
Toby spürte Übelkeit in sich hochkommen. Sie sah Dvorak an.
Er war blaß geworden. Die von Dr. Marx heraufbeschwo-rene Vorstellung schlug ihnen beiden auf den Magen.
»Es war doch nicht lebensfähig, oder?« fragte Toby.
»Natürlich nicht. Seine Zellen wurden nur über den Kreislauf mit der Plazenta am Leben erhalten. Es benutzte die Mutter als Nahrungsquelle. Es war ein Parasit, wenn man will. Aber dann ist jeder Fötus ein Parasit.«
»So habe ich das noch nie gesehen«, murmelte Toby.
»Aber das sind sie wirklich. Die Mutter ist das Wirtstier. Ihre Lungen versorgen den Fötus mit Sauerstoff, aus ihrer Nahrung bezieht er Glukose und Proteine. Unser spezieller Parasit – das
Ding –
konnte nur so lange am Leben bleiben, wie er in der Gebärmutter blieb und am Kreislauf der Mutter hing. In dem Augenblick, als er abgestoßen wurde, fingen seine Zellen an zu sterben.« Dr. Marx hielt inne und sah dem aufsteigenden Rauch ihrer Zigarette nach. »Er war in keinerlei Hinsicht ein unabhängiger Organismus.«
»Wenn es kein Fötus war, wie würden Sie dieses
Ding
denn dann nennen?« fragte Toby.
»Ich weiß nicht recht. Wir haben multiple Schnitte präpariert. Die Farbtests habe ich selbst und dazu noch ein Pathologe aus unserem Haus parallel vorgenommen. Beide mit dem gleichen Ergebnis. Ein bestimmter Gewe-betyp kehrte immer wieder, und zwar in organisierten Zellverbänden. Natürlich gab es auch anderes Gewebe – Muskel, Knorpel, zum Beispiel, sogar ein Auge.
Aber das schien uns sekundär. Was dagegen organisiert war und gut ausdifferenziert, das waren die immer wiederkehrenden Zellgruppen. Glanduläres Gewebe, das wir noch nicht genau bestimmen konnten. Völlig identische Gruppen, alle offensichtlich im mittleren Schwangerschaftsstadium.« Sie holte Luft und sah sie an. »Kurzum, dieses
Ding
sah aus wie ein Gewebeproduzent.«
Dvorak schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber das klingt ziemlich verrückt.«
»Wieso? Im Labor ist das schon längst passiert. Wir können auf den Flügeln von Fruchtfliegen Augen wachsen lassen! Wir können ein hypophysäres Mastergen aktivieren! Wenn das im Labor geht, dann kann das auch in der Natur gehen. Auf irgendeine Weise haben in diesem Mädchen embryonale Zellen vom selben Gen multiple Kopien entwickelt. Natürlich bedeutet das, daß der Embryo sich nicht differenziert entwickelt hat. Er hat keine Arme, keinen Torso. Was statt dessen wächst, sind diese spezifischen Zellgruppen.«
»Was kann zu diesen Anomalitäten geführt haben?« fragte Toby.
»Außerhalb des Labors? Eine zerstörerische Kraft. Ein teratogener Stoff, dem wir bisher noch nicht begegnet sind.«
»Aber Molly erinnert sich an nichts
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