Roter Engel
noch lebt.«
»Sozialversicherungsunterlagen?«
»Das habe ich auch bei Alpren erwähnt. Aber wenn Jane nicht ununterbrochen einer Arbeit nachgegangen ist, kann es Wochen dauern, bis man weiß, wo sie jetzt ist. Ich bin mir nicht sicher, ob Alpren sich das antun will. Vor allem, da er mir ja nicht mal glaubt.«
Dvorak erhob sich. Er schaute sie einen Augenblick lang an, als sähe er sie zum erstenmal richtig, und nickte. »Die Mühe ist es wert. Ich rede mit ihm.«
»Danke, Dan.« Sie gab einen langen Seufzer von sich, mit dem die ungeheure Anspannung sie verließ, unter der sie gestanden hatte. »Danke.«
Er hielt ihr den Arm hin und half ihr vom Schreibtisch. Sie faßte seinen Arm, ließ ihn sie halten, bis sie fest auf den Füßen stand.
Sie hielt immer noch seinen Arm, als sich ihre Blicke trafen.
Das war alles, was er noch brauchte. Diesen Blick. Er hob die Hand zu ihrem Gesicht und ließ die Finger langsam über ihre Wange gleiten. Und in seinen Augen sah sie das gleiche Verlangen, das auch sie spürte.
Der erste Kuß war zu kurz, bloß ein Berühren der Lippen. Eine erste schüchterne Annäherung. Sein Arm schlang sich um ihren Rücken, zog sie näher. Sie seufzte glücklich, als ihre Lippen sich wieder trafen, und dann noch einmal. Sie schwankte rückwärts, und ihre Hüfte stieß gegen den Schreibtisch. Er küßte sie weiter, beantwortete ihre kleinen Seufzer mit einem Brummen. Sie kippte nach hinten, sank auf den Schreibtisch und zog ihn mit zu sich herunter. Irgendwo fielen Papiere auf den Boden. Er hielt ihr Gesicht zwischen den Händen, und seine Lippen, seine Zunge forschte tiefer in ihrem Mund. Sie wollte um seinen Leib fassen und stieß gegen etwas.
Glas zersprang am Boden.
Beide zuckten zusammen und sahen sich an. Beide atmeten schnell und schwer. Und beide wurden gleichzeitig rot. Er stemmte sich hoch und half ihr wieder auf die Füße.
Das Foto von Dvoraks Sohn lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden.
»O nein«, murmelte Toby und sah die Scherben. »Das tut mir leid, Dan.«
»Macht nichts. Da wird nur ein neuer Rahmen fällig.« Er kniete sich hin, sammelte die Scherben auf und warf sie in den Abfallkorb. Als er aufstand und sie wieder ansah, wurde er erneut rot.
»Toby, ich … habe nicht erwartet, daß …«
»Ich auch nicht …«
»Aber mir tut auch nicht leid, daß es passiert ist.«
»Wirklich nicht?«
Er hielt inne, als müsse er überlegen, ob das wahr war, was er gesagt hatte. Dann sagte er mit fester Stimme: »Nein, es tut mir überhaupt nicht leid.«
Sie sahen einander für einen Augenblick an. Dann lächelte sie und preßte ihre Lippen auf die seinen. »Weißt du was?« sagte sie. »Mir auch nicht.«
Hand in Hand überquerten sie die Albany Street und gingen ins Krankenhaus zurück. Toby bewegte sich wie benommen. Die Kratzer spürte sie nicht mehr. Sie hatte sie vergessen. Für sie war jetzt nur noch der Mann wichtig, der neben ihr ging und ihre Hand hielt. Im Aufzug küßten sie sich wieder, und das taten sie noch, als die Tür schon wieder aufging. Sie traten hinaus, als gerade ein Wagen mit der Notversorgung vorbeiratterte. Eine Schwester schob ihn in panischer Eile.
Was hat denn das zu bedeuten?
dachte Toby. Die Schwester rollte das Wägelchen um die Ecke in den nächsten Gang. Über die Sprechanlage kam knackend und krachend eine Durchsage: »Notfall, Zimmer dreihundertelf …«
Toby und Dvorak sahen sich erschrocken an.
»Ist das nicht Mollys Zimmer?« fragte sie.
»Ich weiß nicht mehr …«
Er rannte voraus und der Schwester nach. Tobys verbundene Knie hinderten sie am Laufen, und sie konnte nicht mithalten. Er hielt an und sah in das offene Fenster. »Das ist nicht Molly«, sagte er zu Toby, die ihn eingeholt hatte. »Es ist das Zimmer nebenan.«
Toby sah an ihm vorbei in ein Chaos.
Dr. Marx versuchte, den Patienten zu beatmen. Ein Mann in OP-Kleidung bellte Befehle, während eine Schwester die Schubladen des Wagens durchwühlte. Den Patienten selbst konnte man in dem Gewimmel fast gar nicht erkennen. Toby sah nur einen ausgemergelten Fuß, anonym, geschlechtslos, auf weißem Laken.
»Die brauchen uns nicht«, murmelte Dvorak. Toby nickte. Sie ging weiter zu Mollys Zimmer, klopfte leise und öffnete die Tür.
Das Licht war an, das Bett leer.
Ihr Blick schoß zum Badezimmer hinüber. Auch leer. Sie sah wieder zum Bett. Der Ständer mit der I.v.-Flasche stand da, der Schlauch baumelte herunter, und die Nadel hing noch daran.
Auf dem Boden
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