Roter Engel
nicht in unfreundlichem Ton. Es war eher ein gutgemeinter Rat als ein Befehl. »Hier kannst du nicht bleiben.«
»Ich weiß nicht, wohin.«
»Soll ich jemanden für dich anrufen?«
»Es gibt niemanden.«
Er sah zum Himmel. Der Regen war in ein Nieseln übergegangen. Das braune Gesicht des Inders glänzte in der Feuchtigkeit.
»Ich kann dich nicht reinholen«, sagte er. »Drei Blocks weiter ist eine Kirche. Sie haben Betten, wenn es draußen kalt ist.«
»Was für eine Kirche?«
Er zuckte mit den Schultern, als sei für ihn eine christliche Kirche wie die andere. »Geh die Straße da hinunter. Dann findest du sie.«
Steif geworden stieg sie aus dem Karton und zitterte. »Danke«, murmelte sie.
Er gab keine Antwort. Sie war noch nicht in der Gasse, als sie die Tür zum Restaurant schon zufallen hörte.
Der Regen wurde wieder stärker.
Sie eilte in die Richtung, die der Mann ihr empfohlen hatte, und verschlang gleichzeitig das Brot. Daß Brot so wunderbar schmecken konnte, hatte sie gar nicht gewußt. Weich und würzig duftend. Irgendwann einmal, dachte sie, irgendwann zahle ich ihm zurück, daß er so nett zu mir war. An die Menschen, die nett zu ihr gewesen waren, erinnerte sie sich immer.
Sie hatte eine regelrechte Liste von ihnen im Kopf. Da war die Frau aus dem Schnapsladen, die ihr einen, wenn auch etwas verschrumpelten, Hot dog gegeben hatte. Dann der Mann mit dem Turban. Und diese Dr. Harper. Keiner von ihnen hatte einen Grund gehabt, nett zu Molly Picker zu sein, doch sie waren es gewesen. Sie waren jetzt ihre privaten Heiligen, ihre Engel.
Sie dachte daran, wie nett es sein würde, eines Tages etwas Geld zu haben. Ein Bündel Scheine in einen Umschlag zu stecken und ihn dem Mann mit dem Turban in die Hand zu drücken.
Vielleicht wäre er dann schon alt. Sie würden einen Zettel dranhängen:
Danke für das Brot.
Natürlich würde er sich nicht mehr an sie erinnern. Aber sie sich an ihn.
Ich vergesse es nicht. Ich werde es nie vergessen.
Sie blieb vor einem Gebäude auf der anderen Straßen-seite stehen. Unter einem großen weißen Kreuz stand:
Christliches Missionshospiz. Willkommen.
Über dem Eingang brannte eine Lampe. Warm und einladend.
Molly stand für einen Augenblick gebannt im Regen vor diesem Lichtschein, der sie einlud, aus dem Dunkel zu treten. Ein seltsames Glücksgefühl überkam sie, als sie vom Gehsteig auf die Straße trat, um sie zu überqueren.
Da hörte sie eine Stimme. »Molly?«
Sie erstarrte. Panisch fuhr ihr Kopf zu der Stelle herum, woher die Stimme gekommen war. Es war eine weibliche Stimme. Die Frau saß in einem Wagen, der vor der Kirche parkte.
»Molly Picker?« rief die Frau. »Ich möchte dir helfen.«
Molly trat einen Schritt zurück und wollte schon die Flucht ergreifen.
»Komm her. Ich habe einen warmen Platz für dich. Eine sichere Bleibe. Steig doch ein zu mir.«
Molly schüttelte den Kopf. Sie zog sich langsam zurück und war dabei so auf die Frau konzentriert, daß sie die Schritte nicht hörte, die von hinten näher kamen.
Eine Hand schloß sich über ihrem Mund und unterdrückte ihren Schrei. Zugleich wurde sie mit solcher Kraft zurückgerissen, daß sie fürchtete, ihr Genick würde gebrochen. Dann roch sie ihn – Romy mit seinem süßlichen After-shave.
»Nun rate mal, Molly Wolly«, murmelte er. »Den ganzen verdammten Nachmittag lang bin ich schon hinter dir her.«
Sie wand sich und strampelte mit Händen und Füßen, als er sie über die Straße schleifte. Die Tür des Vans ging auf. Zwei andere Hände zogen sie hinein und drückten sie auf den Boden, wo ihr gleich Hände und Füße mit Klebeband gefesselt wurden.
Der Van fuhr langsam an. Als sie unter einer Straßen-laterne durchführen, sah Molly für einen Moment die Frau, die nur wenige Zentimeter entfernt saß – eine kleine Frau mit nervösem Blick und dünnen, kurzgeschnittenen Haaren. Sie legte die Hand auf Mollys geschwollenen Bauch und gab einen zufriedenen Seufzer von sich. Dazu lächelte sie satanisch wie ein Totenschädel.
»Laß uns zurückfahren«, sagte Dvorak. »Wir finden sie nicht mehr.«
Eine Stunde lang waren sie nun im Kreis gefahren und hatten jede Straße in der Umgebung mindestens zweimal abgesucht.
Jetzt saßen sie in ihrem parkenden Wagen, zu erschöpft, um länger miteinander zu reden. Ihr Atem schlug sich auf den Scheiben nieder. Es hatte aufgehört zu regnen.
Ich hoffe, sie ist in Sicherheit,
dachte Toby.
Hoffentlich hat sie einen warmen und trockenen Platz
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