Roter Engel
Grauschattierungen. Wie in Angus Parmenters Gehirn. Ein Bündel aus Tausenden Röntgenstrahlen hatte seinen Schädel durchleuchtet, und der Computer hatte sich seine Millionen von Daten errechnet. Zusammen mit den verschiedenen Dichtigkeiten der Knochen, Gehirnzellen und Gehirnflüssigkeit war daraus das Bild auf dem Schirm entstanden. Der Schädelknochen erschien als dicke weiße Schicht, wie die Schale einer Frucht. Die Hirnmasse im Innern erschien als ein grauer Brei, vom Sulcusfluid wie von Würmern durchzogen.
Ein Bild nach dem anderen baute sich auf dem Schirm auf, und jedes zeigte eine andere Schicht von Angus Parmenters Schädel.
Sie erkannte den Hypophysengang, zwei schwarze Ovale, gefüllt mit Liquor cerebrospinalis. Den Nucleus caudatus. Den Thalamus. Nirgends eine anatomische Anomalie oder Asymmetrie. Keine Anzeichen von Einblutungen in irgendeine Partie des Gehirns.
»Ich sehe nichts Akutes«, sagte Toby. »Was meinen Sie?«
Vince war kein Arzt, aber als Röntgenassistent hatte er eine Menge mehr CTs gesehen als Toby. Er runzelte die Stirn, als der nächste Schnitt auf dem Monitor erschien. »Moment«, sagte er.
»Das sieht etwas komisch aus.«
»Was?«
»Da.« Er zeigte auf einen Fleck in der Mitte. »Das ist der Türkensattel. Am Rand ist er nicht scharf eingegrenzt.«
»Könnte der Patient sich bewegt haben?«
»Nein, die übrigen Bilder sind ganz scharf. Er hat sich nicht bewegt.« Vince griff zum Telefon und wählte die Privatnummer des Radiologen. »Hi, Dr. Ritter? Kommen die Schnitte gut auf Ihrem Computer an? Prima. Dr. Harper und ich schauen sie auch gerade an. Bei dem letzten Schnitt war uns etwas nicht ganz klar …« Er tippte auf dem Keyboard, und das vorige Bild erschien auf dem Schirm. »Haben Sie es? Was halten Sie da von der Sella turcica?«
Während Vince mit Dr. Ritter konferierte, beugte sich Toby näher über den Monitor. Was Vince entdeckt hatte, war eine sehr feine Veränderung – so fein, daß sie ihr selbst gar nicht aufgefallen wäre. Der hochstehende Türkensattel war mit einer kleinen Grube im Keilbeinkörper verbunden, in der sich die Hypophyse befand. Die Hypophyse selbst war als Drüse ein lebenswichtiges Organ. Die von ihr produzierten Hormone waren entscheidend für eine ganze Reihe von Funktionen, von der Fruchtbarkeit über das Wachstum bis zum täglichen Schlaf-Wach-Rhythmus. Konnte die winzige Veränderung der Sella turcica der Grund für die am Patienten festgestellten Symptome sein?
»Okay. Ich mache jetzt das Dünnschicht-CT«, sagte Vince.
»Soll ich sonst noch etwas tun?«
»Ich möchte mit Dr. Ritter sprechen«, sagte Toby und übernahm den Hörer. »Hi, George, hier ist Toby. Wie schätzen Sie das ein mit der Sella?«
»Das ist nichts Besonderes«, sagte Ritter. Sie hörte seinen Sessel quietschen – wahrscheinlich Leder. George Ritter genoß den Luxus. Sie konnte sich ihn vorstellen, bequem in seinem Studio zurückgelehnt, umgeben von den neuesten Errungenschaften der Computertechnologie. »Bei einem Mann seines Alters sind hypophysäre Adenome keine Seltenheit. Achtzigjährige Männer haben sie zu zwanzig Prozent.«
»Ausreichend, um die Sella zu zerfressen?«
»Das gerade nicht. Aber dieses ist etwas groß geworden. Wie steht es mit seinen Drüsenfunktionen?«
»Die sind noch nicht überprüft. Er ist gerade im akutverwirrten Zustand bei uns eingeliefert worden. Könnte hier die Ursache liegen?«
»Nicht, wenn das Adenom keine sekundäre Stoffwechselabnormität nach sich gezogen hat. Haben Sie seine Elektrolyte gecheckt?«
»Abgenommen wurde alles. Wir warten auf die Ergebnisse.«
»Wenn sie normal und auch keine endokrinen Störungen feststellbar sind, dann müssen Sie wohl anderswo nach den Ursachen seiner Verwirrung suchen. Dieser Tumor ist einfach zu klein, um besonderen Druck auszuüben. Ich habe Vince gebeten, in der Frontalebene ein paar Dünnschichtaufnahmen zu machen. Damit kämen wir ein bißchen besser heran. Vielleicht sollten Sie den Patienten auch noch zur Kernspintomographie schicken. Wie heißt sein Arzt?«
»Dr. Wallenberg.«
Schweigen. »Ist er ein Brant-Hill-Patient?«
»Ja.«
Dr. Ritter seufzte ärgerlich. »Ich wünschte, Sie hätten mir das früher gesagt.«
»Wieso?«
»Ich sehe mir keine Röntgenbilder von Brant-Hill-Patienten an. Die haben ihre eigenen Radiologen, die ihre Aufnahmen selber interpretieren. Was im Klartext heißt: Ich bekomme kein Honorar dafür.«
»Tut mir leid, das habe ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher