Roter Engel
hatte keine Krähenfüße, kein einziges graues Haar und nirgends eine Stelle, wo die Haut schon erschlaffte. Sechsundzwanzig Jahre war sie jetzt alt, also – nach den unübertrefflichen Worten seines heranwachsenden Sohnes – ein blondes Baby. Und wie nennt mein Sohn dann
mich
hinter meinem Rücken? dachte er.
Einen alten Furzer? Einen verkalkten Trottel? Für einen vierzehn Jahre alten Patrick mußten fünfundvierzig Jahre in so weiter Ferne liegen wie die nächste Eiszeit.
Dabei sind wir alle dem Tod näher, als uns klar ist, dachte Dvorak und sah auf den nackten Körper auf dem Seziertisch. Die Overhead-Lampen leuchteten ihn voll aus, hart und unnachsichtig, und hoben jede Furche und jede Vertiefung in der Haut des Toten hervor. Die grauen Haare auf seiner Brust. Die seborrhoische Keratose am Hals. Diese unvermeidlichen Veränderungen im Alterungsprozeß. Selbst die blonde und knackige Lisa würde eines Tages ihre Leberflecke haben.
»Sieht aus, als hätten wir es hier mit einem Mann zu tun, der viel an der frischen Luft war«, meinte er und ließ einen behandschuhten Finger über eine rauhe Hautstelle an der Stirn fahren.
»Orthokeratose. Kommt vom Sonnenbrand.«
»Aber eine ziemlich ansehnliche Brustmuskulatur für einen alten Knaben.« Natürlich fielen Lisa solche Details gleich auf. Sie schwor auf Fitneßclubs. Seit zwei Jahren trainierte sie wie verrückt ihren Körper, und ihre Sucht nach Perfektion hatte einen Punkt erreicht, an dem sie zu gern nur noch von Adduktoren, Abduktoren, Armbeugern und Trapezmuskeln redete. Es war eine Obsession. Oft beobachtete Dvorak sie, wie sie in den Anblick ihres eigenen Spiegelbilds über dem Waschbecken vertieft war. War ihre Frisur auch perfekt? Kringelte sich die blonde Stirnlocke wie von selbst? Würde die Bräune halten, oder waren noch einmal zwanzig Minuten Sonnenbad auf der Dachterrasse angesagt? Dvorak fand ihre jugendliche Besessenheit, gut auszusehen, so amüsant wie erschreckend.
Dvorak selbst schaute nur noch selten in den Spiegel, und das nur beim Rasieren. Wenn er sich selbst ansah, war er immer überrascht, daß sein Haar nun schon soviel silbergraue wie schwarze Streifen hatte. In seinem Gesicht erkannte man die Spuren der Zeit, die tiefer werdenden Furchen um die Augen, die Stirnfalten über den Augenbrauen, vom vielen Runzeln tief eingegraben. Auch sah er, wie müde und abgespannt sein Gesichtsausdruck geworden war. Seit seiner Scheidung vor drei Jahren hatte er Gewicht verloren und seit zwei Monaten noch mehr, seit sein Sohn Patrick im Internat war. Mit den Schichten seines Privatlebens hatten ihn auch die Pfunde verlassen.
Heute morgen hatte Lisa seine neue Hagerkeit angesprochen.
Gut sehen Sie derzeit aus, Doc!
hatte sie gezirpt, was nur bewies, wie blind diese junge Dame war. Dvorak hielt sich nicht für gutaussehend. Wenn er in den Spiegel schaute, sah er dem künftigen Kandidaten für ein Prostataadenom ins Gesicht.
Und diese Autopsie hier war auch nicht geeignet, seine Stimmung zu heben.
»Drehen wir ihn um«, sagte er zu Lisa. »Ich möchte mir erst seine Rückseite ansehen.«
Gemeinsam rollten sie den Leichnam auf den Bauch. Dvorak justierte die Lampen neu und sah sich die lageabhängige Verteilung der Totenflecken an. Vereinbar mit einem Absinken des Blutes an die abhängigen Körperpartien, daneben die blassen Stellen am Gesäß, wo das Gewicht des Körpers das weiche Gewebe zusammengepreßt hatte. Er drückte einen Finger gegen die blutunterlaufene Verfärbung, und sie wurde weiß.
»Totenflecken noch wegdrückbar«, gab er zu Protokoll. »Da über dem rechten Schulterblatt haben wir eine Abschürfung. Aber nicht der Rede wert.«
Sie rollten die Leiche wieder auf den Rücken.
»Voller Rigor mortis«, sagte Lisa.
Dvorak warf einen Blick auf den Krankenbericht. »Als Todeszeitpunkt steht hier 5.58 Uhr. Das paßt zur Leichenstarre.«
»Was haben diese Blutergüsse an den Gelenken zu bedeuten?«
»Sieht aus, als wäre er festgebunden worden.« Dvorak blätterte weiter im Bericht und las die Eintragung der Schwester:
Patient bleibt unruhig und wird mit Vier-Punkt-Gurten fixiert.
Wenn doch nur alle Fälle bei der Autopsie bezüglich der Todesumstände so gut dokumentiert wären, dachte Dvorak. Immer wenn man eine Leiche zu ihm in die Autopsie rollte, schätzte er sich glücklich, wenn man sie positiv identifizieren konnte, und sogar noch glücklicher, wenn sie so intakt und geruchsfrei war.
Um mit den schlimmsten Gerüchen
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